Vor ein paar Tagen dachte ich noch, in Scheiße zu treten wäre ein gutes Zeichen. Wer in Scheiße tritt, kennt den Weg, trägt den Kopf erhoben.
Mir ist das zum letzten mal vor einem Jahr passiert, an einem Tag zwischen Frühling und Sommer. Das Grün der Straßenbäume war noch keine Gewohnheit, die Vögel flogen geile Kurven. An in Schöneberg, Winterfeld, Ecke Maaßenstrasse, schaute ich einer Frau im roten Sommerkleid nach.
Der Wind spielte mit dem dünnen Stoff, ließ ihn steigen. Das Kleid wurde zur Fahne, unter der ein runder Hintern hin und her tänzelte. Es war eine schöne Fahne, ein schöner Anblick, weil er nichts bedeutete, nur ein namenloser Arsch unter einem dünnen Stück Stoff.
Dabei passierte es.
Da stand ich mit Spannung im Schritt und Scheiße an den Schuhen. Während die Frau aus meinem Blickfeld entschwand, wischte ich mir die Schuhe an einem Eisengitter ab, fand auch diesen Geruch aufregend und hatte überhaupt kein schlechtes Gefühl.
Heute weiß ich, dass es nicht stimmt. Man tritt in die Scheiße, wenn man dran ist. Das hat was mit dem inneren Konto zu tun. Man spürt es nicht, bucht aber so lange ab, bis man bankrott ist.
Dann ist man dran. Dann tritt man rein.
Dann stinkt es zum Himmel.

Hier im Abfertigungsbereich im Flughafen Tegel riecht es nach gar nichts. Die Stimme aus dem Lautsprecher hat gesagt, dass sich der Abflug des PanAm Fluges um sechzig Minuten verzögert.
Der Luftraum über Berlin ist voll.
Die beiden Geschäftsmänner in grauen Sakkos und mit schwarzen Aktentaschen unterhalten sich leise. Ständig schauen sie auf die Uhr. Als ob das was ändern würde.
Zwischen all den unerfreulichen Gesichtern gibt es in der Abflughalle eine junge Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm. Das Mädchen will dort nicht sitzen, will aber auch nicht auf den Boden. Weil es nicht weiß, was es will, heult es. Ich kenne diesen Zustand, und deshalb verstehe
ich das Heulen.
Die Mutter lächelt entschuldigend in die Runde. Man möchte zu ihr hingehen und ihr sagen, dass sie sich nicht zu entschuldigen braucht. Niemand braucht sich zu entschuldigen.
Ich gehe nicht zu ihr. Ich will nicht auffallen.
Ich habe etwas Geld in der Tasche und eine Leiche im Keller. Das ist genug für einen Mann meines Alters.
Die Leiche heißt Sebastian. Als er noch gelebt hat, nannten ihn alle Key. Als ich ihn zum letztenmal sah, saß er auf Georgs weißem Schreibtischstuhl, das Gesicht zur Tür, die Augen geschlossen. In seiner Brust steckte Georgs Samuraischwert. Wie ein gigantischer Anstecker nagelte es ihm das graue Shirt ans Brustbein. Blut war nicht zu sehen. Nur auf den Lippen rötlicher Schaum. Durch eine Schwellung war der rechte Mundwinkel nach oben gezerrt.
Es sah aus, als würde er lachen.
Ich hatte noch nie einen Toten gesehen. Es war nicht so schrecklich, wie ich gefürchtet hatte. Wird man mit dem Tod plötzlich konfrontiert, passt er zum Leben.
Claudia fand mich bewusstlos auf dem Boden. Key hatte sie gerufen, kurz bevor er ein Loch in die Brust bekam.
Sie sagte, er sei ziemlich nervös gewesen, als er anrief. So nervös, wie einer wie Key eben sein kann.
Er hatte geahnt, dass was schiefläuft. Er wusste nur nicht, was.

Claudia denkt, dass es die Bolivianer waren. Die kämpfen am härtesten um ihre Anteile am europäischen Binnenmarkt und sie mochten Berlin. Aber die waren es nicht. Es gibt noch eine ganze Reihe Leute, die ihm, glaube ich, ans Leder wollten. Die waren es auch nicht.
Ich weiß, wovon ich spreche.
Key war kein schlechter Kerl. Etwas zu heftig vielleicht.
Vielleicht zu verspielt. Ich kann das nicht sagen. Er ist in meinem Kopf noch zu lebendig. Manchmal sagte er plötzlich so was wie »Es ist die Ambivalenz, die die vollkommensten Systeme bedroht« oder »jeder Terminus wird exterminiert«. Hinterher war ihm das peinlich.
Key hat ein Softwareprogramm entwickelt, mit dem man die Börsenkurse und -bewegungen taktisch drei Tage und
strategisch bis zu sechs Monate im Voraus berechnen kann. Das hat etwas mit fraktaler Geometrie, der »Hausdorff-Dimension« und einer bestimmten Formel zu tun.
Was ist das? Das darf mich niemand fragen.

Mit dem Programm wollte er die Börse sprengen. Damit er an der Börse aktiv werden konnte, brauchte er Geld.
Er war Dealer – deshalb.
Ich weiß nicht, ob das die einzige Möglichkeit ist, um an Geld zu kommen. Aber ich weiß auch keine andere.
Fast alles, was ich über Key weiß, weiß ich von Claudia. Sie hat mich vom Fußboden auf Georgs Bett gezerrt und mir kalte Umschläge gemacht, bis ich wieder einigermaßen klar war. Sie hat die Fingerabdrücke von den Türen gewischt und gesagt, dass es besser sei zu gehen.
Key ließen wir sitzen, die Tür offen. Ein paar Straßenecken weiter stiegen wir in ein Taxi.
»Wie ist es passiert?«
Sie fast beiläufig, der Taxifahrer summte eine Melodie aus dem Radio mit.
»Ich war es nicht«, sagte ich. Ich konnte mich nicht erinnern. Mein Kopf schmerzte.
»Ich weiß. « Sie nickte.
Ich ahnte, woran sie dachte.
Bei ihr zu Hause musste ich mich erst mal hinlegen.
Als ich wieder erwachte, hat mir alles erzählt, was sie wusste, oder was sie mir erzählen wollte:
Key war Claudias Bruder. Ich hatte gedacht, er wäre ihr Zuhälter gewesen. In gewisser Weise war er das auch. Sie hat jede Mark in seine Idee gesteckt. Er war ihr großer Bruder. Er hat immer einen Grund gewusst. Sie wird es zu Ende bringen.
»Ökonomie der Verschwendung«, sagt sie, habe Key gesagt. Sie bekommt einen bodenlosen Blick, wenn sie davon spricht.
Sie ist seine Schwester. Sie hat die Diskette. Deswegen rief Key sie an. Er hat ihr gesagt, wo sie das Ding findet.
Ich glaube nicht, dass Key ein schlechter Verlierer war.
Wenn er wirklich soweit im Kopf war, dann mußte er damit rechnen – der Chaosfaktor. Rund 4,2. Vielleicht sah es nicht nur so aus, als würde er lachen.
Vielleicht hat er gelacht.

In Genf gibt es einen Banksafe auf den Codenamen Sidney Schlosser. Dort liegt eine größere Menge Geld. Jemand muss Diskette und Geld in Frankfurt zusammenbringen. Claudia hat gefragt, ob ich für sie nach Genf fahre. Sie wird in der nächsten Zeit sehr vorsichtig sein müssen.
Ich habe nein gesagt. Ich habe nicht gesagt, warum. Sie hat es auch so verstanden. Die Beule ist fast weg.
Berlin hat sich erledigt. Ich fliege nach London. Claudia hat mir die Adresse einer Freundin gegeben, die mal mit ihr im Sugar-Club gearbeitet hat. Dort kann ich vorerst wohnen.
Das Geld wird eine Zeitlang reichen. Ich werde Spazierengehen und nachdenken. Es gibt nichts mehr, was mich drängt.
Auch in mir nicht.
Sobald ich aus Berlin raus bin, wird Claudia anonym bei der Polizei anrufen und sagen, dass dort und dort eine Leiche liegt. Sie kann den Gedanken an Key mit dem blassen Gesicht auf dem weißen Stuhl nicht ertragen. Auch mir wird ganz anders, wenn ich daran denke.
Es wird eine Weile dauern, bis die Bullen das Puzzle zusammen haben. Vielleicht wird in einigen Monaten der
hässliche Mann im Fernsehen die Leute dazu Aufrufen, in Keys oder meiner Spur zu schnüffeln. Aber darauf ist geschissen. Ich bin fort, und Key ist tot.
Ich glaube nicht, dass es ihn noch stört.

Auf dem Weg zum Flughafen bin ich noch einmal bei Karen vorbeigefahren. Ich wollte ihr den Schlüssel zur Wohnung zurückgeben.
Ich fand sie etwas verwirrt, noch leicht angesoffen und mit einem schwarzen Mann im Bett.
Sie sagte, dass er John heißt.
Das war mir egal. Ich wollte ihr nur meinen Schlüssel geben, und verabschieden wollte ich mich auch, wegen der Reise und der Zeit, die wir zusammen waren.
Sie wollte wissen, wie lange ich weg bin.
Ich sagte, sie könne davon ausgehen, dass ich nicht zurückkäme, und sie brauche mir keine Telefonnotizen mehr zu machen.
Niemand wird anrufen.
Es war kurz vor sechs Uhr morgens, wir hatten drei Jahre zusammengelebt. Wir standen uns im Flur gegenüber. Karen war ohne Orientierung und ich im Kopf schon weg.
»Was soll ich machen?« fragte Karen.
»Nimm dir ’nen Schwaben«, sagte ich. »Die sind sparsam, zahlen pünktlich und haben außer Dope keine Laster.«
Karen nickte.
Ich küsste sie auf die Wange, und dann war es vorbei.

Die Abfertigung hat begonnen.
Ich habe London vor mir, eine Reisetasche neben mir und ein leichtes Stechen im Kopf. Das Stechen kommt von der Beule und der Erkenntnis, dass Key tot ist.
Nichts Außergewöhnliches bleibt zurück.
Die Gangway wippt unter meinen Schritten, der Morgenwind streicht über die Maschine, und die Stewardeß lächelt, als wäre es das erste Mal.
Vor ein paar Tagen hätte ich das nicht für möglich gehalten. Ich fühlte mich wie der Letzte der Gerechten, alleingelassen zwischen Nutellabroten, Verzweiflung und Tagesschau. Ganz besonders übel war es an dem Tag, an dem dieses Ende begann.

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