VI.

Ein Zen-Schüler geht zu einem Zen-Meister, um endlich das Geheimnis des Zen zu erfahren. Er trägt dem Meister, der ruhig in der Zazenhaltung auf dem Boden sitzt, sein Anliegen vor und bittet diesen um Unterweisung. Der Meister hört ihm zu und weist ihn an, sich ebenfalls in der Zazenhaltung neben ihn zu setzen. Nachdem der Schüler einige Minuten ruhig sitzend neben dem Meister wartet, fängt er an unruhig zu werden. Schließlich schaut er den Meister fragend an, worauf dieser sich zu ihm umdreht und sagt: „Nichts wird mehr passieren. Das ist alles.“

Ich liebe Zen Geschichten.

Als ich Vipassana erlernen durfte, war das für mich eine zutiefst berührende Erfahrung. Mit einer Weisheit konfrontiert zu werden und eine Technik lernen zu dürfen, die seit ca. 2500 Jahren von Menschen gepflegt, bewahrt und weitergeben wird, ist etwas beglückendes.

Und so saß ich da, ließ meine neu erworbene Aufmerksamkeit vom Scheitel zu den Zehen wandern und wieder zurück, beobachtete meine Empfindungen beim entstehen, beim Vergehen, beim Entstehen und Vergehen. Ich beobachtete sie auf der Oberfläche meines Körpers und später in der gesamten Masse des Körpers. Ich verwandelte mich dabei in eine Zwiebel – Schicht für Schicht drang ich tiefer in die Empfindungen und damit in die vermeintliche Körper-Geist-Dualität ein. Es dauert und es tut weh. Du sitzt und die Zeit dehnt sich endlos. Wie weich dein Kissen auch ist, irgendwann sitzt du nur noch auf Nadeln. Auch diesen Nadeln ist eigen: sie stechen eine Weile, dann vergehen sie. Denn durch reines Beobachten löst sich die Empfindung auf – grobe Empfindungen, feine Empfindungen.

Sie kommen.

Sie bleiben.

Sie gehen.

Und je länger du sitzt, je ruhiger dein Geist dabei wird, je weiter du dich durch Unruhe, Feindseeligkeit und Zweifel kämpfst – dieses Kämpfen heißt Aushalten, Loslassen, Zuschauen – desto tiefer dringst du in dein ICH ein. Denn auf einer tieferen Ebene es sind nicht mehr nur die Empfindungen im Moment, die Entstehen und Vergehen, sondern es sind auch alte, im Körper abgelagerte Erinnerungen, positiv, negativ wie neutrale, die durch die Beobachtung des Geistes an die Oberfläche kommen – es sind deine Schatten und im besten Sinne des Wortes bleibt dir nichts weiter übrig, als sie auszusitzen. Und indem du alten Schmerz auflöst, altes Verlangen vergehen lässt, dir jedes einzelnen Schattens bewusst wirst, gewinnst du Freiheit für dein zukünftiges Handeln zurück. Anders ausgedrückt: Wenn es zukünftig an deiner Tür klingelt, dann stürzt du nicht mehr Zähne fletschend nach vorn, sondern du schaust Schwanz wedelnd, was da Sache ist. Es gibt in dir keine schlechte Erfahrung mehr, keinen Schatten, vor denen du Angst hast und der dich zum Reagieren zwingen. Du musst deinen inneren Kläffer nicht mal mehr an die Leine legen. Er kläfft nicht mehr. Er schnuppert und freut sich.

Wenn du weiter übst und noch tiefer gehst, kommst du an einen Punkt, an dem du erfährst, dass auch dein ICH, dieses so gehegte und gepflegte Haus, weder fest, noch stabil, noch eigentlich ein Haus ist. Es ist vielmehr eine Idee, durch die der Wind geht und der Regen fällt. Dein ICH besteht aus unzähligen Nicht-ICH Elementen und die sind auch alle noch ständig in Bewegung. Anders gesagt: ICH besteht aus Mutter-und-Vater-Elementen. Aber ICH besteht auch aus Wasser, besteht aus Luft, aus Hitze, aus Mineralien, der momentanen Nahrung. Noch tiefer: Die Elemente, die gerade ICH sind, die Atome, deren Hüllen ICH bilden, sind zur gleichen Zeit auch Atmosphäre, sind Mond und Sonne, transportieren ICH Informationen ins Universum, wie sie auch Universumsinformationen in ICH transportieren. Alles ist von allem durchdrungen. Alles ist ständig im Werden und Vergehen.

Kein ICH.

Alles entsteht bedingt und zerfällt, wenn sich die Bedingungen ändern.

„Alles gut,“ sagte mein Betreuer und legte mir vorsichtig die Hand auf die Schulter. „Versuche bei den Beobachtungen zu bleiben.“

Ich nickte. Mir war nicht aufgefallen, dass ich weinte. Aber mir lief das Wasser aus den Augen und der Nase. Glück und Erschrecken sind eins.

Anicca.

     VII.

Als der Buddha die Satipatthana Sutta lehrte, wurde sie nicht aufgeschrieben, sondern nur mündlich weitergegeben. Zum ersten Mal wurden alle Lehrreden des Buddha nach seinem Tod im 1. Konvent aufgezeichnet. Seitdem haben sich viele große Meister und Gelehrte mit der Technik beschäftigt. Die edle Einfachheit der Lehre ist auch für große Seelen nicht einfach auszuhalten. Und so ist eine unendliche Zahl von Meditationsmeister immer tiefer in die Dualität von Geist und Materie eingedrungen und hat unglaublich schlaue Abhandlungen darüber geschrieben. Allein in Myanmar, so las ich letztens, soll es 35 verschiedene Vipassana-Techniken geben. Jede wird richtig sein. Klöster, Traditionen und Schulen haben das Einfache wieder kompliziert gemacht; es ist das Wesen der Spezialisten, Spezialwissen zu entwickeln und zu pflegen. Es gehört zur Natur des Menschen, nach Herrschaftswissen zu verlangen. Dem Buddha schwant das wohl, als er im Alter sagte, dass die Sangha ihn nicht brauche und er die Sangha nicht.

Buddha war kein Buddhist. Buddha hat in der Sprache gelehrt, die von den Menschen gesprochen und verstanden wurde. Er war jemand, der aufgebrochen ist, das Leider dieser/aller Menschen zu beenden. Wenn wir dazu den linken großen Zeh ins rechte Nasenloch stecken und ein lange Formeln rezitieren müssen, ist es nicht die Technik. Was uns transzendiert, ist die Einfachheit: den Atem beobachten, den Körper beobachten, den Geist beobachten. Ist sind Moment des „Aushaltens“ und die daraus resultierenden Erkenntnisse. Unruhe und Ruhe – anicca. Schmerz und Freude – anicca.

Am Apollotempel von Delphi stand über dem Eingangstor die Aufforderung „Erkenne dich selbst!“ Der Buddha hat die Technik dafür entwickelt. Alles was im Geist entsteht, fließt mit Empfindungen einher. Wenn wir diese Empfindungen beobachten, erkennen wir das wahre Wesen unseres Geistes. Wenn wir vor der Erkenntnis fliehen, folgt das Unglück uns auf dem Fuß. Jeder Versuch, sich selbst entkommen, führt in den Schmerz. So einfach. Die Ursachen für alles Leid in der Welt sind Unkenntnis und Ignoranz, sagte der Buddha. Was er enthüllte, ist einfach wie Laufen – du musst deine Füße benutzen. Bestimmt gibt es Abermillionen verschiedene Laufstile. Aber alle funktionieren im Kern so, dass du einen Fuß vor den anderen setzt! Fällst du um, stehst du wieder auf und übst weiter. Genauso haben wir alle Laufen gelernt; wir sind umgefallen und wieder aufgestanden. Keiner hat erwartet, einfach loszugehen.

Der Buddha ist ein Bettler und er ist der Weihnachtsmann. Er bringt die Gaben. Und wer Glöckchen braucht und Duft, um sie annehmen zu können, der soll Glöckchen und Duft haben. Aber funktionieren tut es auch ohne. Was mich im Herzen überzeugte, noch bevor ich von den Früchten kosten konnte, war die völlige Konzentration auf den Körper; jeder Beweis der Theorie findet sich in mir. Es gibt nichts zu glauben, was nicht am und im eigenen Körper erfahrbar ist.

Das spielt meine Herkunft rein: Ich bin Ostsozialisiert. Ich bin im Sozialismus aufgewachsen, der auf den geborstenen Fundamenten des Faschismus stand und mit einer deftigen Priese Stalinismus gewürzt war. Marxismus-Leninismus war lange meine intellektuelle Nahrung. Ich habe eine Ismus-Allergie entwickelt. Die Lehre des Buddha: Setz einen Fuß vor den anderen und schau, ob du voran kommst auf dem Weg. Und wenn es gar nicht klappt, dann überprüfe, ob du und der Buddha mit „Füße“ dass gleiche Körperteil meint.

Anicca.

     VIII.

Das Ziel des Weges ist nibbana, wie es auf Pali heißt. Das ist nicht Erleuchtung, das ist Erlöschen. Das Erlöschen von dem, was Leid verursacht: Begehren und Abneigung. Das nicht mehr haben wollen, was man nicht haben kann. Das nicht mehr ablehnen, was man hat. Das ist der Endpunkt, aber genauso ist es der Startpunkt. Was machst du ihm Kern, wenn du meditierst? Du schaust der Entropie bei der Arbeit zu. Entropie ist die Tendenz der Welt, zur Unordnung, zum Zerfall. Wenn du tiefes Sehen übst, wird Dir schnell klar, das unser lebendiges Sein auf der physischen Ebene aus unbelebten Elementen besteht – aus Wasser, aus Luft, aus Mineralien usw. Was aber diese leblosen Elemente zum Leben transformiert, ist Bewusstsein. Während der Meditation schaut dieses Bewusstsein dem Körper bei der Auflösung, dem Zerfall zu.

Die Früchte des Bemühens gibt es die ganze Zeit auf dem Weg, manchmal sind sie klein, manchmal groß, manchmal gehst du achtlos an ihnen vorbei. Aber niemand anderes als du kann diesen Weg gehen – jeden einzelnen Schritt. Und soviel du auch über Nibbana weißt – es bringt dich keinen Schritt näher. Früher haben erfahrene Meister ihren Schülern immer nur soviel Wissen gegeben, wie sie gerade in Tun umsetzen konnten. Heute sind wir darauf trainiert, zuerst alles wissen zu wollen, eher wir bereit sind, es zu erfahren. Aber nur das Gehen des Weges bringt dich näher ans Ziel.

Keine Schönheit ohne Gefahr: Auch die Meditation kennt ihre Schatten. Wenn das ICH eine Weile still sein kann, dann glaubt es, schon ganz schön Buddha zu sein. Ah! Oh! Ich meditiere. Gern auch in einem Gespräch: „Weißt du, ich meditiere jetzt.“ Ah! Oh! Wenn sich Erkenntnis einstellt, dann glaubt das ICH, es weiß jetzt was. Wenn sich Fortschritt einstellt, dann kann das ICH denken, es kommt voran usw. Das ICH ist ein zähes Luder und wir füttern es in unserer Gesellschaft ohne Pause. Deswegen ist es so wichtig, bei den Empfindungen zu bleiben, denn sie lehren uns das Wesen der materiellen Wirklichkeit: anicca, dukkha, anatta – unbeständig, unerträglich, leer.

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