I.

Wir wären gern Licht. Wir wären gern von ganzem Herzen gut. Wir wünschen uns eine bessere Welt. Viele von uns bemühen sich, üben, machen Yoga, optimieren ihre Persönlichkeit, lesen Ratgeber. Wir versuchen positiv zu denken. Und weil wir uns damit so bemühen, müssen wir alles verdrängen, was unser positives Denken stört; Wut und Angst, Verlust und Schmerz. Deutschland mit seiner schweren Geschichte, das waren immer die Anderen. Mit uns hatte das nichts zu tun. Wir haben unseren Zorn, unsere Wut, den Schmerzen und die Wut unserer Eltern und Großeltern solange verdrängt und, mit dem Bleimantel der Schuld umhüllt, tief in uns versenkt, dass wir fassungslos dastehen und ansehen müssen, wie Schmerz und Zorn unkontrolliert wieder aufbrechen. Das gibt uns endlich wieder Gelegenheit, selbst zornig und wütend zu sein auf die, die offensichtlich nicht gelernt haben. Wir stecken in der Falle. Wir sind die. Niemand wird Licht, der sich nicht seinen Schatten stellt. Und wer versucht, seinen Schatten zu entkommen, vor ihnen zu fliehen, den holen sie von hinten ein. Flucht heißt, seine Angst mitnehmen. Manche Menschen versuchen z.B. ihren Schatten durch Erfolg zu entkommen. Es sind meist die Biographien der großen Brüche – plötzlich sind sie pleite, werden beim Sex mit Kindern erwischt, sterben an einer Überdosis. Das sind keine schlechten Menschen. Es sind Menschen, die ihre Schatten solange verdrängt haben, bis sie explodiert sind – in einem Moment der Unaufmerksamkeit, der falschen Sicherheit, der müde gewordenen Deckung.

Niemand entkommt seinen Schatten. Selbst wenn du dich mitten ins Licht stellst – dein Schatten liegt dir zu Füßen wie ein treuer Hund. Die Schatten haben viele Namen – Selbstzweifel, Missgunst, Neid, Eitelkeit, Ehrgeiz, Anmaßung, Faulheit, Arroganz, Zorn usw. Selbst Selbstlosigkeit, wenn sie dem Zweck dient, das Ich aufzuwerten, kann ein Schatten sein. Der einzige Weg, von ihm nicht gejagt zu werden, ist, sich ihnen zu stellen, sie auszuhalten, anzunehmen. Die Flucht endet in dem Moment, indem du stehen bleibst und JA sagst. Ja, in mir ist Selbstzweifel, in mir ist Missgunst, Neid, Eitelkeit, übermäßiger Ergeiz. Erst dann, wenn du deinen Schatten in die Augen sehen kannst, werden sie ihren Schrecken verlieren und sich irgendwann auflösen. Erst dann kann dort, wo Schatten war, Licht sein.

Vor ein paar Wochen habe ich auf meinem Blog eine kleine Anleitung geschrieben, wie du in XXII Schritten zum Buddha wirst. Das war ironisch gemeint. Ironie kommt nicht gut an, schon gar nicht bei „esoterischen“ Themen. Ich wollte einen Weg aufzeigen, wie du dich deinen Schatten stellen kannst – quasi als Abkürzung. Ich mache seit über 20 Jahren Werbung, da ist der Geist einfach drauf trainiert, für eine Pointe die Großmutter zu verkaufen. Außerdem beobachte ich bei mir, dass ich häufig zur Ironie als Mittel meiner Wahl greife, wenn mir was wirklich Nahe geht. Angst mich verletzlich zu machen, ist einer meiner Schatten. Übermäßiger Ehrgeiz, Gier, Verlangen, Wut – mit Schatten kenne ich mich aus. Ich bin in einem zornigen Land geboren. Für die Flapsigkeit in meinem Buddha Text möchte ich mich entschuldigen. Zu den Dingen, die in meinem Leben eine zentrale Rolle spielen, die mir Nahe sind, gehört die regelmäßige Meditation. Meditation, so wie ich sie verstehe, ist Schattenarbeit.

Ich meditiere seit ca. 16 Jahren. Regelmäßige Meditation hat die Wogen meines inneren Meeres geglättet. Wenn du jung bist, leidest du an der Welt. Wenn du älter wirst, beginnt das Leiden an dir – Krankheiten bekommen konkrete Namen, Freunde sterben, gerissene Lücken bleiben leer. Einen Tag einfach im Bett zu bleiben ist keine Option mehr. Mit jeder Stunde werden die Kanten der Zeit schärfer. Angst und Verlust in der Familie, verpasste Chancen, Wut aus der eigenen Historie, der Schmerz, der immer noch unversöhnt durch dieses Land mäandert – jeder von uns hat seine List, an der er arbeiten kann.

Meditation ist ein Weg, das Auge im Sturm zu sein. Ich bin auf dem Weg manchmal stehengeblieben bin, ich bin manchmal von ihm abgewichen, aber ich wusste immer, dass er da ist. Er ist am Anfang da und er ist da, wenn die Drogen nicht mehr wirken, wie „The Verve“ singen. Leben ist leiden. Auch wenn wir uns an soziale Feedbacksysteme angeschlossen haben, die uns pausenlos mit gehobenen Daumen versorgen – wir wissen, wir sind auf dünnem Eis unterwegs. Das Eis wird brechen. Leben ist leiden und es endet tödlich. Der Japanische Samurai-Schriftsteller Miamoto Musashi schreibt, der Weg des Kriegers besteht darin, dem Tod entschlossen entgegenzutreten. Insofern ist Meditation eine Kriegertechnik. Du atmest ein, du lebst. Du atmest aus, du stirbst. Wer die Vergänglichkeit des Seins wirklich begreift, ist frei.

     II.

Neben dem privaten Aspekt der Selbstbefreiung gibt auch eine gesellschaftliche Dimension, die immer drängender wird, die uns im Nacken sitzt. Wir leben in hysterischen Zeiten. Die alten Ordnungen, von denen wir noch vor wenigen Jahren dachten, es wäre die neuen, zerfallen unaufhaltsam. Die Welt ist eins, aber sie will es nicht sein. Empörung und Zorn machen sich breit von Mumbai bis Seattle, von Barcelona bis Nairobi und die Zeit scheint sich in beide Richtungen gleichzeitig zu dehnen – Zukunft sieht aus wie Vergangenheit, Vergangenheit spielt sich auf wie Zukunft. Religion, die alte Schlange des Irrationalen, sprüht wieder ihr Gift. Viele Menschen empfinden dieses Gift als willkommenes Betäubungsmittel gegen die Phantomschmerzen der Moderne. Wir berufen uns in Europa neuerdings wieder auf die Christlichen Wurzeln, statt unsere laizistische Tradition zu verteidigen. Vernunft ist ein Schimpfwort geworden und gefühlte Wahrheiten setzen die Agenda. Pankaj Mishra beendet sein großartiges Buch „Jahrhundert des Zorns“ mit folgenden Worten: „Unter den vielen Hundert Millionen jungen Leuten, die dazu verdammt sind, überflüssig zu sein, nähren sie den Verdacht, dass die gegenwärtige Ordnung, ob nun demokratisch oder autoritär, auf Zwang und Betrug aufgebaut ist, und lassen eine Stimmung aufkommen, die breiter und apokalyptischer ist, als wir dies jemals erlebt haben. Sie unterstreichen auch die Notwendigkeit, eines wahrhaft veränderten Nachdenkens über die Welt.“

Der einzige Weg, sich von der Hysterie nicht anstecken zu lassen, ist innere Gelassenheit zu entwickeln. Was heißt das? Es heißt vor allem, aus dem reflexhaften Reagieren herauskommen; den inneren Kläffer an die Leine zu legen. Wenn alles nach entschlossenem Handeln schreit, weil die eigene Ohnmacht so unerträglich ist, heißt die Übung Nicht-Handeln. Es kann auch heißen, tief in die Ohnmacht eintauchen, wo wir manchmal gern so mächtig wären oder waren – z.B. mächtig gut. Die Zeit der exzessiven Expansion ist vorbei; es gibt keine Kontinente mehr zu erobern, deren Eingeborene sich mit Pocken-Decken ausrotten lassen. In einer endlichen Welt ist unendliches Wachstum eine böse Illusion. Natürlich können wir den Mars erobern, wie Elon Musk und seine Freunde es wollen. Aber wenn wir es mit dem Mindset tun, dass wir jetzt haben, dann nehmen wir unsere Probleme eben mit auf den Mars. Anderer Ort, selbe Kacke. Oder wir können hoffen, dass eine gnädige AI uns irgendwann von uns selbst erlöst und uns sanft im Reich der Illusion entschlummern lässt, wo wir die immer gleichen Spiele wieder spielen können in der Hoffnung, den High Score zu knacken.

Die Moderne, der Westen, hat mit der Aufklärung und der damit verbundenen Fortschrittsgläubigkeit, das Versprechen individueller Freiheit in die Welt geblasen und zum Maß aller Dinge gemacht. Sie tarnt sich als Freiheit des Seins, ist aber immer nur die Freiheit des Habens. Wie sich mit der permanenten Krise des Kapitalismus herausstellt, war die Theorie der persönlichen Freiheit immer nur Mittel zum Zweck. Um es in der Syntax der Diamantsutra zu sagen: Wenn wir die Lehre richtig verstanden haben, gibt es kein unabhängig existierendes Objekt des Geistes, das Individuelle Freiheit genannt werden kann, noch gibt es irgendwelche unabhängig existierenden Belehrungen darüber. Okay, mein alter Ironie-Schatten, also Spaß beiseite: Der Gedanke der Individuellen Freiheit war das Resultat eines Denkprozesses einer bestimmten (historischen)Zeit. Die Bedingungen haben sich geändert, das Zeitalter der Industriegesellschaft geht vorbei. Was kommt danach? Hemmungsloser Nationalismus, Theokratien, halbaufgeklärte Absolutismus chinesischer Prägung? Das Rennen ist offen.

Wir werden den Millionen der Enttäuschten, sich von Jakarta bis Caracas unnütz fühlenden, ihre materiellen Träume nicht erfüllen können. Mama Merkel hat kein Haus für alle. Wenn die Enttäuschung darüber nicht in Wut umschlagen und uns allen um die Ohren fliegen soll, braucht es Alternativen. Vielleicht liegt der Sinn ja innerhalb des Rahmens jeder einzelnen physischen Existenz; den Körper als Erkenntnisraum nutzend – die Millionen der Enttäuschten lehren, in sich glücklich zu sein. Die Menschheit hat Laufen auf zwei Beinen gelernt, Sprechen gelernt, Schreiben gelernt. Sie wird meditieren lernen. Unvorstellbar? Es war auch nicht vorstellbar, dass Millionen Menschen ein Auto haben; es war nicht vorstellbar, dass Millionen Menschen einen Computer benutzen können. 2020 werden laut Prognosen 2,87 Milliarden Menschen ein Smartphone besitzen. Wir können uns mühelos vorstellen, alles zu haben. Wir können uns nicht vorstellen, alles zu SEIN!

Glück ist das Gegenteil von Konsum. Es ist weder für Fardin aus Bangladesch, noch für Marc Zuckerberg, noch war es für Steve Jobs käuflich.

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