1.
Jetzt, nachdem sich der Rauch ein wenig verzogen hat, alle Statements gemacht wurden und die Welt erbebte unter der gewaltigen #wirsindmehr Bewegung, würde ich gern ein paar Gedanken über Chemnitz hinaus beisteuern.

2.
Ich bin in der Stadt geboren, die jetzt wieder Chemnitz heißt. In meinem Pass steht als Geburtsort noch Karl-Marx-Stadt. Ich bestehe darauf. Weil es die Wahrheit ist. Chemnitz, das alte Chemnitz, ging zwischen Februar und April 1945 unter. Nach den 10 Luftangriffen waren 80% der Innenstadt zerstört. Dass es nicht zu einer totalen Katastrophe kam lag daran, dass Schneefall und Kälte einen Feuersturm verhinderte. Ich weiß ein wenig davon, weil mein Vater es mir erzählte. Er war noch ein Kind, als er seinen Segelflieger aus dem brennenden Haus rettete, das einmal sein Zuhause war. Aus dem Nachbarhaus hörte er die Schreie der Eingeschlossenen, die im Phosphorfeuer verbrannten. Danach war er kein Kind mehr.
Die Zerstörung reichte aus, dass die Alliierten Chemnitz als weitere tote Stadt abschrieben. Vorher war es eine kulturell reiche, wirtschaftlich erfolgreiche Bürgerstadt. Danach wurde es Karl-Marx-Stadt, eine sozialistische Modelstadt. Wie das aussieht, kann man noch heute in weiten Bereichen der Innenstadt besichtigen – inklusive des monströsen 40t schweren Karl Marx Monuments. Das lustige daran – es gab keine Verbindung zwischen Karl Marx und Chemnitz. Der Philosoph war nie in der Stadt, hat in ihr nichts Modellhaftes erkannt. Warum dann dieser Name? Um uns zu bestrafen, sagte meine Oma. Sie konnte, mit von Tränen feuchten Augen, für die verlorene Stadt schwärmen wie ein Mädchen. Ich habe ihr damals zu wenig zugehört.
In Leipzig wird gehandelt, in Dresden repräsentiert, in Chemnitz gearbeitet – das war der Dreiklang der drei großen sächsischen Städte. Die Katastrophe Dresdens wurde zum Symbol, Leipzig konnte seinen alten Bürgerstolz motivieren, der Untergang von Chemnitz wurde einfach überklebt: Karl-MarxStadt.

3.
Karl-Marx-Stadt: Über meiner Erinnerung liegt schwefelgelber Rauch, wenn der Wind ungünstig stand. Meistens tat er das. Die Zentralhaltestelle, eine Art Leerstelle als Zentrum, liegt verlassen. Das ehemalige Tietzkaufhaus, später Centrum Warenhaus, kämpfte in den Schaufenstern mit Kreativität gegen den Mangel. Richtung Neukirchen wachsen die Neubauviertel. Die Industrie, einst der kreative Schrittmacher der Stadt, war nach dem Einmarsch der Roten Armee in den Westen geflohen. Ein großer Teil davon, der nach jahrzehntelanger Subvention Bayern zum strotzenden Hort der Selbstherrlichkeit machte, nahm in Chemnitz seinen Anfang.
1979 gab es einen Bombenanschlag auf das Denkmal der Befreiung – einen T34 Panzer, der auf einem Sockel stehend Richtung Innenstadt zielte. Es gab nicht viele Bombenanschläge in der DDR. Entwurzelung, Zorn, das Gefühl nicht gesehen zu werden, keine Anerkennung zu finden, gehörten für mich schon immer zu dieser Stadt mit ihrer mehrfach gebrochenen Identität – von Chemnitz zu Karl-Marx-Stadt und wieder zu einem Chemnitz zurück, für das es auch keine Idee gibt.
Die Mitte der Stadt ist leer, blieb nach den Bombenangriffen leer, blieb nach dem real existierenden Sozialismus leer und die Deutsche Einheit als Stadtgestalter hatte auch keine andere Idee, als die Leere mit Shoppingmalls zu füllen. Durch die weiten Fluchten der Innenstadt von Straße der Nationen und Brückenstraße pfeift immer noch der Wind. Chemnitz ist die einzige deutsche Großstadt ohne ICE Anschluss – wenig Welt rein, wenig Welt raus. Wer in Chemnitz etwas besser leben möchte, lebt am Rand.
Die Mitte bleibt leer.

4.
Das alles ist keine Entschuldigung für die Hitlergrüße aus Chemnitz. Das ist keine Entschuldigung für einen einzigen Hitlergruß. Wer den Arm zum Hitlergruß hebt, dem gehört der Arm gebrochen. Ich finde, daran sollte man einen Nazi erkennen – am gebrochenen Arm. Der Hitlergruß ist ein Akt der Gewalt. Deshalb sollte der Staat mit aller Macht auf sein Gewaltmonopol bestehen. Aber dieses dekorative Entsetzen, der Aufschrei über den ausgestreckten Finger, dieses rituelle „wehret den Anfängen,“ das ist in seiner Verlogenheit unerträglich. Wer hat denn wo angefangen? Wer hat denn was angefangen?
Der erste Großdemagoge des wiedervereinten Deutschlands kam von Links – Oskar Lafontaine hat der Zukunftsfähigkeit der SPD den Stecker gezogen und versucht allen Linken, die von der Komplexität der Gegenwart enttäuscht waren, die Illusion einer politischen Heimat zu geben. Die da oben, wir hier unten. Das ist Demagogie in Reinkultur: der Komplexität ausweichen und einfache Lösungen anbieten. Umverteilung als Generallösung hat dasselbe intellektuelle Niveau wie „Ausländer raus.“ Aber der Aderlass Richtung linken Rand hat nicht nur der SPD, sondern der gesamten Mitte einen Teil der Zukunftsfähigkeit und des konstruktiven Diskurses gekostet. Der eigentliche Spin der SPD und mit ihr einem großen Teil der intellektuellen, kreativen Mitte ging damit verloren: sich weiter zu entwickeln, Hoffnung zu haben, auch wenn das Weiter noch völlig unklar ist. Wo aber diese Hoffnung verloren geht, keine Neugier auf Zukunft mehr besteht, so unsicher sie auch sein mag – genau in diese Leerstelle wird sich früher oder später Angst einnisten.
Der Wille, Zukunft für gestaltbar zu halten, ist das einzig sichere Mittel gegen Angst. Macht aber Arbeit! Verlang die Fähigkeit, Ambivalenz auszuhalten. Demagogie ist das Gegenteil davon. Rechte Demagogie, Linke Demagogie – kein Unterschied. Erst war Lafontaine, dann Gauland – das gleiche Kaliber. Das lustige Bonmot, die Linken zünden Autos an, aber die Rechten Menschen, ist leider auch nur temporär richtig. Wo immer Linke in der Geschichte die Chance dazu hatten, waren die Rauchschwaden der Krematorien nicht weniger schwarz als die die Rauchschwaden der Faschistischen Mordfabriken.

5.
Zuerst war die Angst Links und etwas, womit sich mobilisieren ließ: Angst vor Atomraketen, Angst vor Baumsterben, Angst vor saurem Regen, Angst vor Tschernobyl, Angst vor Deutschland, Angst vor der Auflösung des Status Quo. German angst, très chic. Dann mäanderte die Angst langsam rüber ins eher rechte Lager und entwickelte auch dort ein ordentliches Mobilisierungspotential: Angst vor der Globalisierung, Angst vor der Digitalisierung, Angst vor sozialem Abstieg bis hin zu Angst vor Ausländern, Einwanderern etc. – das waren und sind Ängste, die plötzlich neue Mehrheiten zulassen. Wenn dieses linksrechte Angstpotential, wie im Falle Chemnitz, noch auf historisch gewachsene, verunsicherte, schwache Identität stößt, dann kommt es zur Eruption der Verunsicherung, einem Amoklauf der Identitätsschwäche. Das kann Faschismus werden, muss es aber nicht. Aber Chemnitz zeigt, wie diese Identitätsschwäche instrumentalisiert werden kann.

6.
Angst vor Faschismus ist genauso produktiv wie Angst vor Identitätsverlust oder Ausländern. Angst ist für gar nichts gut. Was hat Angst schon mal Gutes bewirkt? Angst macht nicht wach, sie macht starr. Der Atem wird flacher, die Pupillen verengen sich, der Bluttruck steigt.
Angst macht das Herz klein, statt groß. Angst inspiriert nicht. Inspiration beginnt nach der Angst. Angst lernt nicht. Lernen beginnt nach der Angst. Angst ist die kleine Schwester der Panik. Angst rottet sich zusammen, weckt atavistische Reflexe. Angst löst nicht das Problem.
Angst ist das Problem. Die Lösung beginnt nach der Angst.

7.
Wir müssen die Angst überwinden und wieder Lust auf Zukunft entwickeln, die mehr als eine neu angemalte Vergangenheit ist. Wir brauchen eine radikale, angstfreie Mitte.

  • Wenn die Menschen, in deren Händen die Zukunft liegt, weil sie tief in den Prozessen der Veränderungen stecken oder sie mitgestalten, auch dem Angstvirus anheimfallen, dann wird es keine Zukunft mehr geben.
  • Wenn Politik aus Angst vor Machtverlust sich billige Mehrheiten sucht, wird es für die Demokratie keine Zukunft mehr geben.
  • Wenn die Wirtschaft aus Angst vor neuen Technologien die alten Technologien frisiert, dann haben wir hier ein echtes Problem.

8.
Radikale, angstfreie Mitte – wie das geht? Keine Ahnung. Aber ich sag mal so: ich freue mich drauf!

Foto: Karl-Marx-Denkmal. Chemnitz von Kora27, wikimedia.org, Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 3.0

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