4. Holy Cow

Ich hatte kein Opfer gebracht. Ich bemerkte es im vorbeigehen; kleine Häufchen aus Früchten und Blumen, dazwischen glommen Räucherstäbchen. Vom Opfer hatte mir der Taxifahrer nichts gesagt. Vielleicht galt es nicht für Touristen. Auch mit einer Flasche Gangeswasser in den Händen war ich noch einer.
Der Weg am Ufer führte um den Halben See und wand sich dann wieder zum Kraterrand hinauf. Oben angekommen teilte er sich. Nach links ging es breit und ausgetreten zurück zum Jahrmarkt. Nach Rechts wurde der Weg dunkel und verschwand als tiefer, aber schmaler Pfad zwischen zwei Felsbrocken. Dorthin ging der kleinere Teil der Pilger auf nackten Sohlen.
Ich folgte den ernsten, entrückten Gesichtern.
Ich war mit meiner Pilgertour noch nicht am Ziel. Ich brauchte noch eine Kuh.
Der Pfad führte schulterbreit zwischen den Felsbrocken hindurch in ein Dickicht und dann in kleinen Serpentinen einen sanft abfallenden Hang hinunter. Nach wenigen Schritten wichen die Bäume und Steine Zelten die Wand an Wand standen. Glöckchen klangen, Trommeln dröhnten, tausend Stimmen sangen tausend verschiedene Namen für tausend verschiedene Götter. Dieser Platz gehörte nicht mehr Shiva allein. Ich hatte das Gefühl, das gesamte hinduistische Pantheon war hier versammelt, um seine Verehrung entgegen zu nehmen. Yogis mit weiß bemalten Gesichtern praktizierten ihr Yoga. Priester mit Blumen und Girlanden geschmückt nahmen Opfergaben entgegen. Feuer warfen ihr rot flackerndes Licht gegen bestickte Stoffwände, Blumen säumten die Pfade. Gongs wurden geschlagen. Kleine Mädchen standen kichernd in Gruppen und naschten von Süßigkeiten; jedenfalls sahen sie süß aus. Eine alte Frau wurde von vier jungen Männern zu einem Altar getragen. Ihr Gesicht war im Gebet entrückt. Mütter stillten Babys, Familien lagerten zwischen den Zelten, aßen oder richteten Speiseopfer an. Ich war der einzige Fremde in einer zwischen Menschen und Göttern vertrauten Welt. Ich fühlte mich in eine Zwischenzeit versetzt, als Himmel und Erde noch nicht so sauber getrennt waren, als auch in Europa noch jeder Weg zu Gott führte. Ich atmete tief durch, sog den Duft von ungezahlten Rauchopfern ein, wollte tiefer in dieses Fremde Meer eintauchen und hatte doch Angst davor nass zu werden.
„Entschuldigung, wo finde ich eine Kuh?“
Der Mann hielt den Hammer, mit dem er den Zeltpflock eingeschlagen hatte, federnd in der Hand und schaute mich irritiert an.
„Ich brauche eine Kuh für das Wasser.“ Ich zeigte meine Flasche als Beweis und Schutz.
Ich weiß nicht, in welcher Welt der Mann gerade unterwegs gewesen war, aber meine Erklärung erleichterte ihn sichtlich. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und wurde ein lautes, polterndes Lachen, nachdem er mich ausgiebig gemustert hatte. Ich trat einen Schritt zurück.
Der Mann schüttelte den Kopf und legte mir die Hand gegen die Brust. Die Geste kam überraschend, ich spürte die Wärme bevor ich an abhauen denken konnte.
„Den Berg hoch.“ Sagte er. „Den Berg hoch.“
Er beschrieb mit der Hand einen Bogen durch die Zeltstadt, der irgendwo hinter dem Kraterkegel endete. Dann sagte er noch etwas auf Hindu, in Sanskrit, oder in der Sprache der Veden. Ich verstand es nicht. Es berührte mich.
Wir verbeugten uns voreinander.

Die einfache Kommunikation hatte ein Loch in das Fremdsein geschlagen. Ich gehörte noch immer nicht dazu, aber ich kam nicht mehr von einem fremden Stern.
Ich begann zu schlendern. Hinduismus ist keine Religion wie wir sie vom Christentum kennen. Es ist eine Vielzahl von Richtungen, Sekten und Einzelgöttern, Philosophien, zusammengehalten von Toleranz, Riten, dem Kalender und der Ehrfurcht vor der beseelten Schöpfung. Es ist ein mystisches Universum. Wenn der Platz vor dem Grand Bassin ein Supermarkt der Devotionalien war, so war das hier eine Momentaufnahme des aktuellen Hinduhimmels. Ich hatte keine Führer durch diese Versammlung. Ich war nicht unterwegs, um mehr darüber zu wissen. Ich war losgegangen, um heiliges Wasser für meine Tochter zu holen. Das Ritual führt mich, führte meinen Willen.

Ich stand vor einem großen, offenen Tempel. In der Mitte stand schwarz und glänzend, von Blumen umsäumt, der Shiva Lingus, der Samen verschleudernde Schwanz Shivas. Frauen, Männer, Mädchen, Jungs und Greise zogen betend ihre Runden um den glänzenden Phallus. Jetzt, nachdem ich die magische, die Glut-und-Asche Seite des Maha Shivaratri durchquert hatte, war ich wachsamer und verträumter zugleich. Ich suchte nicht mehr in fremden zufälligen Blicken nach Zustimmung oder Duldung für mein Dabeisein. Ich war nicht mehr darum bemüht, meine Unsicherheit mit Freundlichkeit zu kaschieren. Ich war einfach da. Ich ging meine Runde. Und dann sah ich sie.
Es war die schönste Kuh, die ich je gesehen hatte. Sie war siebzig Zentimeter hoch bis zur Schulter, den Kopf hatte sie in den Nacken geworfen. Ihre Hörner waren ebenmäßig bis in die Spitzen. Sie stand in einem Meer von Blumen, geschützt von einem Baldachin. Von den Nüstern bis zum Schwanz glänzte sie silbern in der Nacht. Es war eine Statue. Aber eindeutig die einer Kuh. Eine Traube von Menschen stand um sie herum und begoss sie aus fein gearbeiteten Kännchen mit Wasser – mit dem heiligen Wasser.
Ich hatte gefunden, was ich gesucht hatte. Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich war dabei, das Ritual zu vollenden. Ich war dabei, das richtig Wasser zu meiner Tochter und meiner Frau zu bringen. Ich war dabei, ein Teil des Zaubers zu werden.
Ich war kein Teil dieser Welt. Ich war vielmehr der Gegenentwurf, die Drohung. Ein blasser, zotteliger Europäer, der mit seinem Milch-Fleisch gemästeten Körper die Szene ungefähr um eine Haupteslänge überragte. Statt einem fein ziselierten Kännchen hielt ich eine 1,5l Volvic-Flasche in der Hand, statt eines weißen Saris trug ich ein schwarzes, verwaschenes Hemd an, dass für eine Blinde Date Party warb. Ich war geschickt worden um den Hindus zu zeigen, was aus ihnen werden würde, wenn sie ihre Tradition verließen. Ich war der Anti-Hindu.
Ich traute mich nicht, in den Kreis der Kuh zu treten.
Bis hierher war ich gekommen.
Ich kam keinen Schritt weiter.
Ich kannte das. Wie oft hatte ich in meinem Leben in der Situation gestanden. Hatte mich dessen nicht Wert gefühlt, was ich mir doch so gewünscht hatte; Chancen, die ich aus Furcht vergehen ließ, Frauen, vor deren Zuneigung ich zurückschreckte. Nichts kann Furcht erregender sein als Wünsche, die sich plötzlich erfüllen.
Ja, ich verstand es. Am Arsch die Räuber! Ich war Erstarrt in dieser Erkenntnis.
Ein Schlag in den Rücken schreckte mich auf.
„He du!“
Ich drehte mich um.
Ein alter Hindu stand vor mir. Seine langen, weißen Locken hingen bis zur Hüfte, sein lachender Mund zeigte ein paar schwarze Zahnstummel. Er trug ein blaues Hemd, offen über der Brust, und eine weiße Hose. Sein Gesicht war zerknittert wie sehr mürbes Pergamentpapier. Seine Augen lachten und strahlten wie die eines jungen Mannes.
„Was los mit dir?“ Fragte er. „Willst du’s zu Ende bringen oder willste ewig ein Tourist bleiben?“
Ich seufzte. Das war nicht der Zeitpunkt, mich über seine Frage zu wundern. Aber ich hatte das Gefühl, ihm eine Erklärung schuldig zu sein.
Er winkte ab wie jemand der keine Lust hatte, die alte Leier noch einmal zu hören. Er brauchte meine Erklärung nicht. Er kannte sie bereits.
„Shiva ist es egal wie du aussiehst, wenn du vor ihn trittst. Shiva sieht dein Herz! Und jetzt geh!“
Er legte mir die Hand auf die Schulter und drehte mich der Kuh zu, schob mich durch das Gedränge zu ihr. Im Kreis der Pilger tat sich eine Lücke auf. Ohne einen Augenblick zu zögern schob mich der Alte bis an den Rand des Steinsockels, auf dem die Statue stand.
Die Silberschmiede hatten Ornamente in ihre Flanken graviert, Spiralen zogen sich über ihre Hörner. Ich schraubte den Verschluss von der Flasche, streckte den Arm aus. Klar floss das Wasser über ihren Kopf, den Rist entlang, tropfte von ihrer Schwanzquaste.
Ich gab Wasser einer Kuh.
Ich bemerkte nicht, wie das Gewicht der Hand von mir abfiel. Ich bemerkte es nicht, weil in diesem Moment unzählige Gewichte von mir abfielen. Weil ich mich plötzlich so leicht fühlte, wie seit Jahren nicht mehr.
Keine „Wohin?“ mehr.
Ich war angekommen.

5. Opfergabe

Niemand mehr da, bei dem ich mich bedanken konnte. Der Alte war fort. Die Menge drängte mich von der Kuh weg an den Rand. Ich lies mich drängen, rollte wie ein Kiesel in der Strömung bis ich wieder auf dem Platz vor dem Grand Bassin stand. Zu meiner Rechten führte der Weg hinab zum Wasser, links zurück in die Berge, aus denen ich heraufgekommen war. Erstmals seit Stunden hatte ich wieder ein Gefühl für den Raum, gab es so was wie Erkennen. Mir zitterten die Knie, ich war hundemüde. Ich brauchte eine Pause.
Es war ein großartiges Gefühl zu sitzen, zu schauen. Für einen Moment hatte ich nichts mehr zu tun. Ich war den ganzen Weg gegangen. Ich durfte nach Hause, das Wasser zu meinen Mädchen bringen.
Yeah!
Mein Magen knurrte. Ich nahm den Rucksack ab, der die ganze Zeit auf meinem Rücken geklebt hatte, und öffnete ihn. Ich hatte noch den Erdnuss-Riegel dabei!
Meine Hand fand ihn nicht. Meine Hand fand nichts weiter als einen sauberen Schnitt, der das Gewebe auf eine Länge von zwanzig Zentimetern durchtrennt hatte. Ungläubig schaute ich in meine leere Hand, die an der falschen Stelle wieder aus meinem Rucksack auftauchte. Und dann begann ich zu lachen.
Ich lachte sehr lange. Ich heulte dazwischen ein bisschen. Schlug mir mit der Hand auf den Schenkel, prustete. Schwarze Amex, Ausweis, Führerschein, Geld – alles weg. Ich war heilfroh, dass ich das Wasser hatte!
Und dann fiel mir ein, dass es nur einen Menschen gegeben hatte, der mich während all der Stunden am Rücken berührte. Und dieser alte Mann war kein Mensch gewesen. Der Gott hatte mich geführt und weil ich ihm kein Opfer gebracht hatte, hatte er sich sein Opfer genommen: Die Centurio Card!
Ich wischte mir die Lachtränen von den Wangen, warf mir den unnützen Rucksack über die Schulter und atmete ein paar Mal tief durch. Dann machte mich auf den Weg zurück. Ich hatte um ein Zeichen gebeten. Ich hatte eines bekommen. Die Flasche hielt ich die ganze Zeit gegen meinen Bauch gedrückt.

Mein Fahrer kam mir einpaar Schritte entgegen. Sein Gesicht begann zu strahlen, als er meine Freude sah. Mein Fahrer war am Boden zerstört, als ich die Geschichte mit meinem Rucksack erzählte. Er war beschämt! Am Maha Shivaratri beklaut! Ein Tourist! Wie peinlich! Meine Erzählung von der Begegnung mit Shiva hielt er für einen Versuch, ihn zu trösten. Ich, der Beklaute, tröstete ihn, der zum Volk des Diebes gehörte! Noch größere Schande!
Es ist aussichtslos, als Tourist einen Hindu davon überzeugen zu wollen, Shiva getroffen zu haben. Genau so hoffnungslos wäre es wohl, wenn ein Hindu einen Christen davon überzeugen will, gerade von Jesus zur Krippe geführt worden zu sein. Mumpitz. Das geht zu weit.
Die Rückfahrt verlief schweigend. Auf halber Strecke fragte er mich, ob ich Musik hören wolle. Ich bat ihn, die Raga von der Hinfahrt noch einmal zu spielen.
Ich schob meinen Sitz ein Stück zurück, faltete die Hände im Nacken. Durchs offene Fenster wehte der Wind, die Nacht war schwarz und weich und warm. Sie stank etwas nach Benzin. Ich hatte das Wasser. Ich hatte es getan. Eine Flasche Glück für die Familie. Das und die Musik erfüllten mich mit tiefer Heiterkeit.
„Du hast ihn wirklich getroffen.“ Sagte meine Fahrer nach einem langen Blick und nickte mir bestätigend zu. „Ich kann es spüren. Du hast ihn getroffen und er hat von dir weggenommen, was dich belastet hat!“
Er nickte seinen eigenen Worten nach. Dann begann er wieder zu singen: „Shiva, Shiva, Shambho, Mahadeva Shambho!“
Vor dem Hotel verabschiedeten wir uns mit einer Umarmung.

Meine Frau schlief, hatte aus ihrem Körper ein Nest um das schlafende Baby gebaut. Der Anblick war wunderschön. Ich blieb betrachtend stehen, rührte mich nicht.
„Gut, dass du wieder da bist.“ Sagte meine Frau, ohne die Augen zu öffnen. „Schön, dass es dir gut geht.“
„Ich habe das Wasser“, flüsterte ich. „Und ich habe Shiva getroffen.“
„Na klar hast du das.“
„Er hat dafür gesorgt, dass ich eine Kuh gefunden habe.“
„Wie nett.“
„Und er hat mein Geld, die Kreditkarten, Ausweis und Führerschein als Opfergabe genommen.“
„Deinen Taucherausweis?“
„Ist im Zimmertresor, mein Pass auch.“
„Gut. Du musst morgen früh gleich die Kreditkarten sperren lassen.“
„Hab ich schon.“
„Dann leg dich zu uns.“ Sagte sie.
„Nein.“ Sagte ich.
Sie richtete sich auf. „Was willst du?“
„Runter ans Meer.“ Sagte ich. „Das Baby mit dem Wasser waschen. Es ist noch ganz frisch! Ich habe doch nicht den ganzen Weg gemacht, um das Wasser dann in den Hotelkühlschrank zu stellen und zu warten, bis uns der Hotelboy weckt!“

Auf dem Horizont schwammen die ersten Fäden der Morgendämmerung. Ein sanfter Hauch wehte übers Meer. Meine Frau hielt das schlafende Baby in den Armen. Vorsicht ließ ich Wasser aus der Flasche in meine rechte Hand und dann über ihren Kopf laufen.
Sie schlief einfach weiter.
Dann öffnete sie für einen Moment doch die Augen und sagte Papa.
„Sie hat Papa gesagt.“ Erklärte ich.
Meine Frau lachte. „Natürlich hat sie das. Mit sechs Monaten.“
„Doch ehrlich.“ Beharrte ich. „Hab`s doch gehört.“
Meine Frau kicherte. Das Baby schnarchte. Ich brummte vor Behagen und rieb die Flasche mit dem heiligen Wasser an meinem Bauch.
Der Schlaf kam mit dem Morgen.

Ich sprach mit dem 24h Concierge Service von Centurio, für den das alles kein Problem war. Sie versprach, am nächsten Tag einen Kurier von Frankfurt loszuschicken, um eine neue Karte zu bringen. Der Kurier kam nicht. Ich sprach wieder mit dem 24h Service. Sie sagten, sie würden jemanden aus Cape Town schicken. Eine Woche später erhielt ich einen Anruf von AMEX aus Südafrika, ich möge mir doch bitte in Port Louis eine Ersatzkarte holen. Ich habe das nicht gemacht. Ich komme gut ohne die Schwarze American Express Card aus.
Mit Shiva stehe ich noch in Kontakt.

Berlin, 2005/2016

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