Ich trat an den Mac. Er war ausgeschaltet. Unter dem vollen Aschenbecher lag das Booklet für die Spieldisketten.
Ich las, was auf der Rückseite stand: »Do ya really think ya got a chance with the cops, the mob and who knows who else all after ya? Well, good luck, pal. Oh, by the way, did I mention that ya don’t even remember who ya are?«
Ich fühlte mich ertappt. Kein Mensch hat das Recht, so was zu fragen. Unter meinem Ledersakko stand der Schweiß. Ein Kaffee würde mir guttun.
Birke hatte sich Frische ins Gesicht gemalt und brachte eine Wolke von Zedernholz und Zitrone mit in die Küche.
Ich kämpfte gerade mit der Verschlußtechnik der Maschine.
Den Kaffee hatte ich schon gefunden. Ich bekam den Filter nicht auf. Es klappte noch weniger, als ich ihren Blick im Rücken spürte.
»Zart, ganz zart«, sagte Birke.
Da ging es.
Wir standen nebeneinander an die Wand gelehnt und schauten zu, wie die Maschine den Kaffee in schwarzen Blasen in die Kanne spuckte. Die Sonne stand jetzt hoch genug, um in das Dachfenster zu scheinen. Ein paar Staubflocken tanzten, vom Licht aufgeschreckt, durch den Raum, und kein Radio gab nirgendwo seinen trockenen Beat dazu.
Es war fast zehn, und bald würden die anderen kommen.
»Schönes Jackett, was du anhast«, sagte Birke.
»Was ist das für ein Spiel?« fragte ich.
Das waren zu viele Fragen auf einmal. Wir warteten mit den Antworten, bis der Kaffee fertig war. Ich erzählte Birke, daß ich das Jackett geschenkt bekommen hätte.
»Ehrlich?«, fragte sie, »es sieht aus, wie für dich gemacht.«
»Ist ein feiner Kerl, der Georg«, ich strich mit dem Handrücken über das Leder, »willst du auch mal? Einer, mit dem man ohne große Worte auskommt, wenn du verstehst. Hat mir das Jackett geschenkt, weil er weiß, daß ich es mag.«
Birke war beeindruckt: »Du hast vielleicht Freunde…«
Ich nickte. »Er hat viertausend Mark auf der Straße gefunden … einfach so, nicht schlecht, was?«
Birke lachte. »Viertausend Mark… da würde ich auch mein Jackett verschenken, mir dann ein Ticket kaufen und nach Bali fliegen… dort braucht man keins.«
»Was willst du in Bali?«
»Urlaub machen, was sonst. Ich war schon einmal da … die Strände sind fantastisch.« Birke verdrehte entzückt die Augen.
»Du würdest das Geld nicht abgeben?«
»Bin ich blöd?« Birke schaute mich entgeistert an.
»Georg ist nach Sao Paulo geflogen«, sagte ich.
Birke nickte verstehend.
Das Computerspiel war eine Art Labyrinth. Man wacht morgens auf und weiß weder wer noch wo man ist. Überall lauem finstere Typen, die einem an die Wäsche wollen,
Killer, Zuhälter, Nutten und Polizisten. Wenn man durchkommt, findet man zum Schluss seine Identität und den Ausgang aus diesem Spiel. Birke spielte schon seit drei Wochen und war immer noch ganz am Anfang.
»Oh, Mann«, sagte ich, und ich hatte so was wie eine Ahnung. »Verrat mir den Namen, wenn du soweit bist.«
»Das wird noch dauern.«
»Macht nichts«, sagte ich, »noch habe ich Zeit.«

Die Studie lief schon seit Tagen. Da ich der einzige Neue war, gab es keine Einführung für mich. Ich bekam einen Platz zugewiesen und sollte dem Interviewer, der neben mir saß, solange zuhören und zuschauen, bis ich mir zutraute, selbst einzusteigen.
Mein Nachbar war semmelblond, hatte ein ausgeprägtes Kinn, trug dezentes Make-up und war ein Profi. Er verstaute seine langen Beine unter dem Tisch und legte sich einen größeren Vorrat Knabbergebäck zurecht. Dann nestelte er an seiner Krawatte, und ab ging die Post. Ich legte mir ebenfalls mein Sprechgeschirr an und schaute zu.
Der Junge war nicht schlecht. Er entlockte seinem mageren Brustkorb jenen sonoren Klang, der auch schon beim Weinverkaufen der gerade Weg zum Erfolg gewesen war. So auf der Schnittstelle von schwuler Pfaffe und der Weihnachtsmann als Gebrauchtwagenhändler.
»Wen würden Sie wählen, wenn nächsten Sonntag Wahl wäre?«
Die Studie war eine der berühmten Sonntagsumfragen, der Fragenkatalog ziemlich umfassend, und zum Schluss gab es einen dicken Block mit Fragen zur Person.
»Wofür werden die gebraucht?« fragte ich meinen Nachbarn.
»Für die Statistik«, raunte er mir zwischen zwei Sprechproben zu.
Das war zwar keine erschöpfende Antwort, aber so genau wollte ich es auch nicht wissen. Schon Birke hatte bei der Schulung versichert, daß die Namen immer streng von den Daten getrennt würden. Also keine Probleme.
Während ihm der erste ahnungslose Bundesbürger ins Netz ging, nickte ich wieder ein wenig weg.
»Na, wie weit sind wir?«
Diesmal saß die Stimme direkt in meinem Ohr. Ich zog den Ohrhörer heraus und drehte mich um. Im Glaskasten, am Anfang des Raumes, saßen Birke und der Supervisor. Es war der Rockabilly vom Vortag. Er wollte wissen, ob ich noch Hilfe bräuchte. Die Frage konnte er sich in den Hintern
schieben. Wenn die im Glaskasten sich jederzeit in jedes Gespräch schalten konnten, dann war die Kacke am Dampfen. Daß Birke mir aufmunternd zulächelte, änderte daran gar nichts.
Während ich mit steifen Fingern die erste Nummer wählte, plauderte mein Nachbar gerade vom Wetter und flocht dabei beiläufig seine Fragen ein.
Wider Erwarten lief es gut an.
Die Stimme des älteren Herrn am anderen Ende der Leitung war noch brüchiger als meine. Ich brauchte ihn nicht davon überzeugen, welcher Segen die Statistik für unsere
Demokratie war. Im Gegenteil.
»Das wäre alles ganz anders gelaufen, wenn es das damals schon gegeben hätte, das mit dem Adolf und so, wir haben ja überhaupt nichts gewußt, junger Mann«, erklärte er mir, »ich nicht und meine Frau auch nicht, aber die ist jetzt schon seit sechs Jahren tot und ich bin allein, wer versucht es schon noch mal mit einem so alten Zausel…«
Das konnte ich ihm auch nicht sagen, und so zog ich schnell den Teil »Fragen zur Person« durch und hatte mein erstes Interview im Kasten. Ich war nicht stolz, aber froh war ich doch.
Im Vergleich zur Weinverkauferei gab es einen wesentlichen Unterschied. Fand ich niemanden, der mir meinen Wein abkaufte, verdiente ich keine müde Mark. Jede Telefonnummer, die nichts brachte, war eine Chance weniger und war Zeit, die fehlte. Das war zwar eine verzweifelte Ausgangsposition, brachte aber Biß in den Fight. Hier war es egal.
Ich machte erst mal eine Pause, bevor ich die nächste Nummer in Angriff nahm.
Ich startete erheblich gelassener, doch dann verrutschte mir das Mikrophon. Als ich die ganze Technik wieder eingefangen hatte, war niemand mehr in der Leitung. Mein Nachbar lächelte gönnerhaft und erklärte, dass ihm das anfänglich auch passiert sei.
Die angebotenen Knabbernüsse nahm ich nicht.
Nach drei Telefonaten verzog ich mich in die Küche. Die Luft war von Zigarettenrauch so dick, daß man sie schneiden konnte, die Kaffeemaschine kurz vor der Weißglut. Ich goß mir einen Henkelpott voll und hockte mich auf den Boden.
Ich schaute mich um. Es war ein ruhiges, vertrautes Gemurmel, gute Gesichter. Nicht solche Unpersonen wie die, die gestern auf der Schulung waren. Aber auch nicht so ein herausragendes Modell wie die rote Lady. Bestimmt war mit ihr heute nicht zu rechnen. So wie die aussah, hatte sie die Kohle nicht halb so nötig wie ich sie gehabt hatte.
Gehabt hatte!
Ich fasste mir an den Hintern und spürte den Geldclip. Ich wünschte, sie würde hereinkommen und einfach noch mal ihren Namen sagen, und ich würde zu ihr gehen und sagen:
»Komm, laß uns was essen gehen, ich kenn da ’nen kleinen Italiener, wo es Muscheln gibt, Garnelen und andere Schalentiere …«
»Bin ich erledigt«, sagte das Mädchen neben mir mehr zu allen, als zu jemand bestimmtem. Sie blies sich den schwarzen Pony aus der Stirn und sah betrübt aus. »Was mir heut morgen passiert ist…«
Bis heute morgen hatte sie eine alte Frau zur Nachbarin gehabt. Sie stand ihr persönlich nahe, wie einem eben jemand nahesteht, der ständig mit einem Stock an die Wand hämmert, »sobald man eine Platte auflegt, oder mal unter einem Lover etwas heftiger atmet«.
Die Dame trug gepflegtes Grauhaar, hatte einen Boxer und betreute an den Wochenenden und Feiertagen die Hunde ihrer Freundinnen. Es waren Dalmatiner, Pudel und Riesenschnauzer. An denen war sie vor ein paar Stunden gestorben.
»Als ich heute Morgen nach Hause kam, ich hatte mich entschieden, dann doch zu gehen – ich hasse es, mit fremden Männern zu frühstücken – war das Gejaule nebenan so laut, so endlos, dass ich dachte, mir geht der Hut hoch. Ein paar Stunden Schönheitsschlaf brauch schließlich sogar
ich. Also, ich hab mindestens sechsmal geklingelt, das Geheul des Hundes wurde immer lauter statt leiser, da hab ich mal kräftig gegen die Tür getreten… Was soll ich euch sagen, die Alte lag nackt in Strapsen auf dem Fußboden ihres Fernsehzimmers – der Fernseher lief noch. Ein Boxer stand über sie gebeugt, jaulte und leckte ihr das Gesicht.« Das Mädchen steckte sich eine neue Zigarette an, schluchzte: »Da denkt frau, frau kennt sich aus in der Welt und weiß, wo der Hammer hängt, und dann ist Frau bei den schärfsten Spielen nicht mit dabei… was ich eigentlich sagen wollte: ich hab einen ganz guten Draht zur Hausverwaltung, da ist jetzt eine Wohnung frei!« Sie nahm sich einen frischen Kaffee.
Nachdem sich der Tumult wieder gelegt hatte – drei wollten die Wohnung, zwei den Hund -, erzählte ich, daß ich im Alter von drei Jahren einer vor einem Fleischerladen angebundenen Dogge ins Ohr gebissen hatte.
»Und was hat die Dogge gemacht?«
»Nichts. Sie war verstört.«
Das Mädchen, das die Geschichte erzählt hatte, hieß Anke und nickte anerkennend. »Bist du neu hier?«
»Ich war gestern hier zur Schulung.«
»Alle Achtung, gehst ja ganz schön ran. Aber das ist das Beste, man muss gleich ran… was machst du außer TEMPO noch?«
»Studieren«, sagte ich der Einfachheit halber.
Anke lachte. »Hier studieren alle… wir haben eine Bildhauerin, die ist gerade nicht da, mehrere Ethnologen, zwei Musiker, ein paar zukünftige Mathematiker, Philologen und…« Sie zeigte auf den Kerl mir gegenüber. »Das ist Bernhard… du kannst Boss zu ihm sagen. Studiert schon seit siebenundzwanzig Semestern… Sag mal, Boss«, rief sie ihm zu, »was studierst du eigentlich? Ich vergesse das immer wieder.«
Bernhard, oder Boss, griente zu uns herüber. Zu seinem hageren Gesicht trug er ein Muskelshirt und einen Bürstenschnitt. »Das Leben, liebe Anke, das Leben. Das habe ich dir doch schon ein paar Mal erklärt.«
Anke zuckte mit den Schultern. »So was vergesse ich immer wieder – ich dummes kleines Mädchen…«
Das war ein vertrauter Spaß, und fast war ich neidisch.
Die Küche hatte was von einer Skihütte. Man kennt sich, hängt gemeinsam die Socken zum Trocknen, und mehr als ein bisschen Spaß braucht es nicht zu sein. Mit so einer Haltung lässt sich auskommen.
Der Boss hielt mir seinen Zeigefinger vor das Gesicht. »Sei vorsichtig, wir haben schon lange keinen Neuen mehr gehabt, und Anke ist ein multikulturelles Wesen. Also lassen wir uns hier nicht kaputtmachen. Für schlechtes Geld nicht, und nicht für gute Worte.« Er griente. Er war der Boss und gerade dabei, einen Joint zu basteln, den er der Morgenrunde spendieren wollte.
Ich spürte, wie mir die Knie weich wurden. Um die Vormittagshitze abzuhalten, war das einzige Fenster geschlossen. Acht Kettenraucher ließen sich davon nicht beeindrucken. Ich brauchte keinen Joint. Mir reichte es so.
Ich entschuldigte mich und ging aufs Klo.

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