Nachdem ich den Kopf unter den Wasserhahn gehalten und mir die Haare hinter die Ohren geklatscht hatte, fühlte ich mich leidlich frisch, als ich zurückkam.
An der Tür fing mich der Supervisor ab. Er hatte ein Gesicht aufgezogen, mit dem er mir zu verstehen gab, dass er schon immer mein Freund gewesen sei. Jedenfalls hing ihm ein Lächeln an den Mundwinkeln, von dem das Schmalz hopfte. »Das ist mir ja eigentlich völlig egal, und es ist nicht mein Laden«, sagte er, »aber der Computer speichert automatisch, wie viele Gespräche jeder pro Stunde führt.«
Ich bedankte mich für diese Auskunft.
Es kostete ihn Mühe, aber dann wurde er Chef. »Kann ja sein, dass du ein ganz Lässiger bist. Aber wenn du hier Geld verdienen willst, dann solltest du dich etwas mehr um das Telefon als um deine Haare kümmern. Wer unter dem Durchschnitt liegt, fliegt raus. Das wollte ich dir sagen.«
Sein Vortrag hatte ihn wachsen lassen. Arschloch – auch wenn er recht hatte.
Ich ging zu meinem Telefon zurück. Mein Nachbar saß noch immer in derselben Haltung, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet, und plauderte heiter mit seinem Mikrophon. Ich war wütend, müde und hatte das Maul voller Herzschlag.
Ich schluckte ihn hinunter.
Der Vorteil bei aktiver Telefoniererei war, dass die Zeit schneller verging. Es lief gut. Kaffee ohne Ende und meine Müdigkeit hatten mich auf eine Ebene versetzt, wo ich wie ein Automat reagierte. Ich beruhigte aufgebrachte Schichtarbeiter, schwatzte mit Rentnern über das Wetter und gab verschüchterten Hausfrauen neues Selbstbewusstsein. Ich er-
klärte ihnen, wie wichtig ihre Antworten waren.
Nichts war unwichtiger als ihre Antworten. Ich füllte die Fragebögen während der Gespräche nach Gutdünken aus.
Dabei folgte ich meinem eigenen Zufallsgenerator. Tief im Herzen scherte sich die Republik einen Dreck darum, wer sie in der nächsten Zeit regieren würde. Und da die Parteien eh mit eigenem Überlebenskampf beschäftigt waren, verteilte ich die Quoten nach Stimmlage. Dann verglich ich die
Antworten mit meinen Eintragungen. Ich lag ziemlich oft richtig, und es machte fast Spaß.
»Nicht schlecht, Herr Specht«, mein Nachbar nickte anerkennend. »Ich hab fast drei Wochen gebraucht, bis ich die Methode für mich entdeckt habe.«
Dankend nahm ich ein Schokoladenplätzchen.
Richtig übel waren nur Anrufe in Bayern. Das lag nicht an den Bayern, sondern an der Sprache. Man ist einfach Ausländer, wenn man kein Bayerisch spricht. Erschwerend kam hinzu, dass die Bayern ständig zurückfragen. Zwar konnte man die Fragebögen ausfüllen, wie man wollte, aber die Fragen musste man schon ernst nehmen. Denn wenn sich
gerade jemand vom Controlling in die Leitung geschaltet hatte, dann gab es hinterher eins auf die Mütze.
Also übte ich mich in »Grüß Gott« und »Pfüa di« und dämmerte ansonsten mit meinen eigenen unbestimmten Gedanken dem Feierabend entgegen.
Einmal kam Birke vorbei und legte mir die Hand auf die Schulter. »Pass auf die Kanalisationsdeckel auf«, sagte ich.
Sie gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf.
Ich mag es, wenn Frauen mich schlagen.
Ich hatte eine alleinstehende, berufstätige Frau zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig aus Hamburg in der Mache. Ihre Meinung war mir egal. Sie hatte eine Stimme wie Kim Basinger – ein bisschen träge, ein bisschen spröde und weich wie die sieben Matratzen der Prinzessin auf der Erbse. Ich fragte sie, ob sie Zeit hätte, mir ein paar Fragen zu
beantworten.
»Ich wünsche mir oft, dass mich ein großer, blonder Kerl anruft und fragt, ob ich Zeit habe. Du bist doch groß und blond?«
Meine Stimme war auch nicht schlecht, das war der Kaffee, der Suff vom Vortag und die Müdigkeit. »Einszweiundachtzig, neunundsiebzig Kilo und mittelblond«, antwortete ich. Ich hatte in einer Zeitschrift gelesen, dass alle Männer am Telefon einsachtzig sind.
Der Vorteil von Telefonsex ist, dass jeder für seinen eigenen Orgasmus verantwortlich ist.
Ich fragte gerade nach ihrer Adresse, da fiepte es im Kopfhörer. Auf dem Monitor erschien die Anweisung GESPRÄCH BEENDEN. Verdammt, dachte ich, jetzt werden sie dich schwer in die Hoden kneifen. Private Gespräche waren genauso verboten wie eigene Meinungen. Ciao, Schatz! Ich
drückte auf Trennen.
Die hohle, wichtige Stimme des Supervisors in meinem Ohr sagte: »Da ist ein Gespräch für dich. Ich verbinde.«
Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wer mich bei TEMPO anrufen konnte. Es knackte in der Leitung.
»Eisenkolb?!«
Ich erkannte Keys Stimme sofort. Ehe ich ihn fragen konnte, was mir die Ehre verschaffte, war er schon beim Thema: »Ich hole dich in vierzig Minuten ab. Du wartest vor dem Eingang.«
»Würdest du mir kurz sagen, um was es geht?«
Sagte er nicht. Stattdessen fragte er mich, wie es mir geht.
»Ich bin müde, war schon mal schneller im Kopf und auf den Beinen. Ich bin heut morgen aufgestanden und seitdem kein einziges Mal umgefallen. « Gab ich zur Antwort. »Wo warst du?«
»In deiner Nähe. Ich bin in vierzig Minuten da.«
Es knackte in der Leitung, dann Stille.
Ich hätte mir eine erschöpfendere Auskunft gewünscht.
Aber das war jetzt nicht so wichtig. Ich musste mich bei TEMPO abseilen. Birke saß in ihrem Büro, als wäre es noch immer Morgen. Durch die Jalousien fiel das weiche Licht der späten Nachmittagssonne und teilte den Raum in hell und dunkel. Birke saß über Computerausdrucke gebeugt, im
Aschenbecher verglomm eine Zigarette.
Ich räusperte mich. »Wieder reingefallen?«
Birke schaute nur kurz über die Schulter. »Entweder ist das ein Eingabefehler, was wir alle hoffen sollten, oder wir können die Signifikanz der Studie vergessen. Dann Gnade uns Gott. Es werden sportliche, junge Männer kommen und die Computer davontragen. Ich bin aus Hamburg. Ich werde wieder auf die Straße müssen.«
»Ich werde Stammkunde.« Versprach ich spontan.
Birke drehte sich zu mir und drückte die Schultern nach hinten. Ein Streifen Sonnenlicht lag auf ihrem Haar und ließ es glänzen. Es war ein Anblick, der auch müde Männer nicht einschlafen lässt.
»Bist du gekommen, um mir das zu sagen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe überraschend Besuch bekommen. Es tut mir wirklich leid, und die Arbeit hier erfüllt mich ganz, aber ich muss leider weg.«
»Das ist schlecht.« Birke steckte sich eine neue Zigarette an und drückte auf einige Tasten ihres Terminals. Auf dem Bildschirm kam etwas in Bewegung. »Es fehlen noch vierzig Interviews und jetzt sind die Leute zu Hause. Ich werde einen Ersatz finden müssen, was jetzt nicht einfach ist. Natürlich kannst du gehen.«
Sie griff sich das Telefon, um den Ersatz ranzutelefonieren. Ich war das Schwein. Das ist eine Rolle wie jede. Ich fasste vorsichtig nach der Türklinke. »Also, ich geh dann…«
»Bis morgen.« Birke klemmte sich den Hörer unters Kinn.
Es ist immer ein gutes Gefühl, eine schöne Frau sitzenzulassen.
Ich hatte noch dreißig Minuten.

Die Räume des TEMPO-Instituts waren gut isoliert. An der Tür traf mich die Mittagshitze wie eine Keule. Ich ging in die Knie und taumelte am Pförtner vorbei ins Freie, die Hände im feinen Leder des Sakkos vergraben. Das Gefühl, den Tag fast hinter mir zu haben, richtete mich wieder auf. Ich schaute mich um.
Über der Straße, die direkt auf das Betriebstor zuführte, lagen kurze Schatten. Zwischen ihnen bewegte sich geschmeidig eine schlanke Gestalt. Immer wenn sie aus den Schatten in einen Sonnenstreifen trat, leuchtete ihr Haar rot auf: Was für ein Ersatz für mich!
Ich schaute nach links.
Aus dem hinteren Teil des Parkplatzes kam grollend ein roter TransAm gerollt. Die Scheiben waren dunkel getönt, die breiten Reifen zermalmten in Zeitlupe eine leere Bierflasche.
Mein Blick ging zwischen den beiden Erscheinungen hin und her.
Der TransAm war schneller. Er hielt direkt vor mir, das Seitenfenster glitt in die Tür. Key schob sich die Sonnenbrille in die Stirn. »Los, steig ein.«
Er beugte sich zur Beifahrertür und stieß sie auf.
Ich blieb regungslos stehen.
»Moment Mal, da kommt gerade jemand, den …«
»Einsteigen.« Es war mehr ein Knurren als ein Satz.
Soviel Höflichkeit konnte ich nicht widerstehen. Ich ging um den Wagen und ließ mich in das schwarze Leder fallen.
Ich hatte gerade noch Zeit, locker zum Ziel meiner Wünsche hinüberzuwinken, da trat Key aufs Gaspedal.
»Musste das sein, hier so den Helden zu machen? Das Mädchen dort wollte mich gerade zum Essen einladen. Du hast ihr keine Chance gegeben.« Ich glotzte der entschwindenden roten Pracht nach. In meinem Bauch rumorte es.

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