Georg und ich saßen auf dem Balkon, schauten auf den Winterfeldplatz und rauchten einen Joint. Der Himmel war marokkoblau, die Blumen auf der Balkonbrüstung dorrten vor sich hin. Es waren Karens Blumen. Ich hatte vergessen, sie ab Mittag in den Schatten zu stellen.
Georg war schon über Vierzig, hatte Falten so tief, dass man eine Hand darin versenken konnte und graue Strähnen im Haar. Er war Architekt, aber machte gerade eine kreative Pause. Georg zeigte auf einen schwarzen Mann in einer weißen Tunika, der über den Platz lief. Er sagte etwas über die Weite, die man für den Blick brauche, und dass nur jemand so stolz laufen könne, der mit einem Horizont vor Augen aufgewachsen sei.
Mein Mund war von der Hitze ausgetrocknet.
Ich nickte, stand auf und fand im Kühlschrank einen Rest von Karens Sekt.
»Du solltest aufhören, auf dem Balkon rumzuhocken«, sagte Georg, als ich zurückkam. »Von oben runterzugucken ist auf die Dauer nur was für Alte und Weise. Von beidem bist du noch ein Stück entfernt. So viel ungefähr…« Er zeigte einen hinterhältig kleinen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger.
Irritiert hob ich eine Augenbraue. »Und der Herr selbst?« Georg schüttelte den Kopf. »Mit dem Herrn ist das so eine Sache… und was mich betrifft, ich kann mich schon zu beiden rechnen, zu den Alten und zu den Weisen.« Er lachte sein leises, wippendes Lachen. »Nicht nur Joints wegrauchen, sondern auch Erfahrung machen… beunruhigende, wunderbare, spirituelle. Meine Generation…«
»Deine Generation hat die Beatles erfunden, sich Blumen ins Haar gesteckt und die Weltrevolution angezettelt…« Ich winkte ab. Georg war zwanzig Jahre älter als ich, und obwohl er sonst ein durch und durch vernünftiger Kerl war, konnte er es nicht lassen, von Zeit zu Zeit zu schulmeistern.

»Läster ruhig«, sagte Georg, »aber da war wenigstens noch etwas mehr als diese große Eitelkeit… jedenfalls wollten wir noch was. Was willst du, außer deine Wunden lecken?«
Die Antwort kostete mich ein Schulterzucken: »Ich will, dass das Gute siegt, jede Menge Filme mit Happy-End und keine Probleme. Reicht das?«
»Glaube nicht.«
Der Joint war aufgeraucht. Georg drückte ihn an der Balkonbrüstung aus. Die war schwarzgefleckt wie eine alte Landkarte. Er hatte kaum einen Zug genommen.
»Ich gehe«, sagte er.
Ich nickte. Das war nicht unser Tag.
Als er aufstand, legte er seinen Schlüsselbund auf den kleinen Tisch, der zwischen den Liegestühlen stand.
»Was soll das?«, fragte ich.
»Es gibt keine Blumen zu gießen«, sagte Georg, »Du kannst die Wohnung für ein halbes Jahr haben. Mindestens.
Ich geh nach Brasilien.«
Ich setzte mich wieder, nahm den Schlüssel in die Hand.
Georg winkte ab. Es gab nicht viel zu erzählen. Er würde für einen alten Freund in der Nähe von Sao Paulo eine Villa bauen. Er hatte vor ein paar Wochen ein paar Skizzen rüber gefaxt. Sie hatten gefallen.
Ich brachte Georg zur Tür und legte den Schlüssel auf die Schuhkiste im Flur. Dann ging ich in mein Zimmer.
Ich legte eine Platte von Mozart auf. Das mache ich immer, wenn mich was bewegt und ich die Richtung noch nicht weiß. Mozart wirkt klärend. Er reduziert die eigenen Gedanken auf ein gesundes Maß. Das ist der Spott, der in der Musik liegt.
Georg hatte mich nicht gebeten, ihn zum Flieger zu bringen. Ich hatte nicht gefragt. Ich folgte dem Hauptthema der Streicher und ließ Georgs Flieger vor meinen Augen starten. Dann war er fort.
Zuerst war ich wütend. Ich spürte Verrat. In Stunden gemeinsamen Schweigens hatten wir uns darauf geeinigt, dass Georgs Leben vorbei war und auch ich schon den Zenit überschritten hatte. Aber dann schlichen sich Bilder von Palmen, Skylines von Städten und ein böser, wilder Rhythmus in mein Denken. Mein Gott, dachte ich, Brasilien ist herrlich und weit.
Statt der Welt zu zeigen, was eine Harke ist, hatte ich mich im Kleinkrieg mit Karen verzettelt, hatte mich betrunken, um Liebe gebettelt, Geschirr zerschlagen, Zusammengehörigkeit beschworen. Mit Vorwürfen und Gebrüll hatte ich gegen das Verschwinden der Liebe und Migräne, Übelkeit und Langeweile gekämpft.
Ich war vierundzwanzig, wurde fünfundzwanzig, und nichts hatte sich geändert.
Mit fünfundzwanzig kann man nicht mehr tun, als ginge einen das alles nichts an. Mit fünfundzwanzig ist man nicht mehr jung. Dafür ist die Zeit zu schnell, auch wenn alle das Gegenteil behaupten. Es gibt keinen Grund, ihnen zu glauben. Sie sind nur auf ihre Sicherheit bedacht. Sie haben Angst. Sie haben Angst vor allen, bei denen der Verfall noch nicht soweit vorangeschritten ist. Sie sagen, dass man noch Zeit hat, dass man wählen kann. Das sind lauter Lügen. Sie wollen, dass man ihnen vom Leib bleibt. Deshalb erfinden sie das Ding mit der Sicherheit. Das mit der Sicherheit ist raffiniert. Verfall macht raffiniert. Verfall macht klug. Nur wer klug ist, kann sich den Bauspar- und Postsparbuchtrick ausdenken. Die Klugheit ist der einzig positive Aspekt des Verfalls. Wenn man das nicht schafft, kann man gleich einpacken. Das hat nichts mit Intelligenz zu tun. Mir haben sie
immer gesagt, ich sei intelligent. Es hat einen Scheiß genützt.
Nachdem die Platte zu Ende war, war ich traurig.
Ich hasse es, zurückzubleiben.
Es tat mir weh, dass Georg nicht mehr da war.

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