Karen leckte mir das Gesicht.
Auch wenn dagegen nichts zu sagen war – es war ungewöhnlich.
Karen stank aus dem Mund. Das war übel. »Geh dir die Zähne putzen!« maulte ich und schob sie weg.
Karen winselte. Davon wurde ich wach.
Ein Maul voller Schleimhäute und grässlicher Reißzähne geiferte wenige Zentimeter über meinem Gesicht. Ich versuchte den Traum zu vertreiben. Es war keiner. Es war ein Riesenschnauzer.
Küssen oder fressen? Aus meiner Position war das schwer zu unterscheiden.
Wenn man von einem Bären angefallen wird, soll man sich tot stellen. Das habe ich im Kino gelernt.
Der Hund schaute mich besorgt an.
Ich zwinkerte ihm zu.
Er wackelte mit den Ohren.
Pfui, Assi oder Hassi oder Asto, schrie eine Stimme. Die Stimme hatte einem Feldwebel gehört, dem sie die Eier weggeschossen hatten. Seine Witwe hatte Sie übernommen – die Stimme.
Der Hund zuckte zusammen und verschwand Richtung Frauchen.
Himmelarschundzwirn, dachte ich und ließ den Kopf wieder fallen. Mit der Ruhe war es vorbei. Wenn jemand das Recht gehabt hätte, »Pfui« zu schreien, dann wäre ich das gewesen! Außerdem war mein Rücken feucht und kühl. Das war der Morgentau!
Morgentau?
Ich versuchte mich mit meiner Situation vertraut zu machen. Auf die Ellenbogen gestützt, schaute ich mich um und direkt in den Arsch eines aufsteigenden Rosses, das auf breitem Rücken einen deutschen Recken trug. Ein Stück weiter wehten die alliierten Fahnen.
Oh, Mann, was hatten wir für eine Niederlage einstecken müssen.
Das Grünzeug samt Reiter und Fahnen gehörte zum Kleist-Park, wie ich trotz meines schmerzenden Schädels erkannte.
Der Park ist ein Witz; ein grüner Kreis mit Zaun drumrum und ein paar Bäumen. Beachtliche Leistung, dass ich überhaupt den Rasen getroffen hatte. Es schien mir ein Beweis dafür, dass es mit der Trunkenheit nicht gar so schlimm gewesen sein konnte. Ich rappelte mich auf und begann mit einfachen Koordinationsübungen – das Durchsuchen meiner Taschen nach einer Zigarette.
Zu meiner Überraschung fand ich welche. Als ich die Taschen nach Feuer abklopfte, machte ich eine andere Entdeckung. Weder war mein Jackett grün Kariert, noch aus dem ihm eigenen Seiden-Wollgemisch. Im Gegenteil: Es war ein braunes Ledersakko. Das Leder glitt verführerisch weich durch die Finger und verursachte Gänsehaut, als würde man
über den nackten Rücken einer Frau streichen. Das Sakko war in einem tadellosen Zustand, vom rechten Ärmel abgesehen, den ich im Schlaf zerknittert hatte. Innen war es mit rosa Seide gefüttert und besaß eine Tasche mit Reißverschluss. Sie war nicht verschlossen. Statt eines Feuerzeugs hielt ich einen Geldclip in der Hand. Er umklammerte eine beträchtliche Anzahl brauner, blauer und rotbrauner Scheine.
Sie fassten sich so selbstverständlich an, dass ich gar nichts Besonderes empfand. Viel Geld ist ganz schön leicht. Mühelos passte es in die Arschtasche meiner Jeans. Eine Zeitlang spürte ich nichts weiter, als dass die Sonne mir näherkam.
Ich war froh, nicht rauchen zu müssen.
Ich drehte alle Taschen um, um einen Hinweis auf den Besitzer des Jacketts zu finden. Ich fand nichts.
Solange ich nicht wusste, wie ich zu dem Sakko oder das Sakko zu mir gekommen war, war das alles nicht wirklich.
Aber andererseits — warum sollte so was nicht einfach passieren,
wie Blitzschlag oder Hodenkrebs? Da fragt auch niemand.
Ich war ungeduscht, ungefrühstückt und hatte einen dezenten Kater. Also trat ich die nicht gerauchte Zigarette aus, gab dem Bronzeamor einen Klaps auf den Hintern und ging die wenigen Schritte durch die Kaiserkaskaden zur Potsdamer Straße, um mir ein Taxi zu fangen.
Geld genug hatte ich jetzt.
Ich frühstückte vernünftig – ein Kännchen Kaffee, eine halbe Grapefruit, Quark oder Joghurt mit Früchten, vier Scheiben Weißbrot, Butter, Marmelade und einen Teller Ham and Eggs, die in Fett schwammen. Ich tunkte Weißbrot in warmes Fett und packte die weichen Dotter darauf.
»Amerikanisches Frühstück« nannte sich das, und es war köstlich. Sogar ein paar Scherze mit der Kellnerin gelangen mir.
Sie war eine von diesen kaffeebraunen Südseeberlinerinnen und lächelte trotz der frühen Morgenstunde jeden erbarmungslos nieder, der ihr vor den Kühler geriet. Wahrscheinlich lag sie jede freie Minute am Halensee und hielt ihren zart durchwachsenen Mädchenbauch in die Sonne. In
Klarsichtfolie gewickelt hätte sie ein entzückendes Praliné abgegeben. Lecker.
Alles war bestens und der unangenehme Beginn des Tages schon fast vergessen, bis ich mir die Zeitung holte. Bonn hatte nichts Wesentliches zu sagen. Im Osten gab es Demos.
Hätte man auch nicht gedacht. Der Binnenmarkt zog als Gewitterfront am politischen Horizont herauf. Als Bürger hatte ich mit Folgen zu rechnen. Welcher Art die wären, würde sich noch herausstellen. Der Standpunkt der Redaktion besagte sowohl als auch.
In der Rubrik »Aus Wissenschaft und Technik« las ich, daß sie auf einer Satellitenaufnahme ein weiteres großes Ozonloch entdeckt hatten. Sie hatten ihm einen Namen gegeben, wie sie das auch bei Wirbelstürmen tun. Sie nannten es Sally.
»Es ist nicht viel, was einem vom großen Nichts trennt«, vertraute ich der Kellnerin an, als sie das Geschirr abräumte, »und mit jedem neuen Loch kommt man ihm ein Stück näher. Dann muss man ganz schön trommeln und auf einem Bein ums Feuer springen, um seine persönliche Ozonschicht aufrecht zu erhalten. Wenn das nicht mehr klappt, fällt das heulende Elend wie die Heuschreckenplage über einen her. Dagegen ist >Weihnachten und fern der Heimat< ein Pappenstiel.«
»Ich hoffe, es liegt nicht am Kaffee«, sagte sie, »aber ich spreche auf alle Fälle mal ein Wort mit dem Koch!«
Ich hatte Ausweis und Führerschein in der rechten und dreieinhalbtausend Mark in der linken Arschtasche. Es sprach nichts dagegen, das Lokal mit einer ordentlich bezahlten Rechnung zu verlassen, die blaue Buslinie zum Flughafen zu nehmen und von Tegel aus mit dem nächsten Last-minute-Ticket nach Brasilien abzuhauen.
»Ein ausgezeichneter Anlass, was Gutes zu rauchen«, würde Georg sagen. Wir würden auf dem Balkon eines vollklimatisierten Hotels sitzen und in die untergehende Sonne starren, während von der Straße das Geklapper der Sambarasseln und die spitzen Schreie der ekstatisch Tanzenden
heraufwehen würden.
Alles, was mir zum Glück fehlte, war Georgs Adresse.
Ich gab der Kellnerin ein großzügiges Trinkgeld. Statt des Fliegers nach Sao Paulo nahm ich die S-Bahn nach Mariendorf; verdammter Preuße in mir!
Die Tür zum TEMPO-Institut stand offen, und Licht brannte. Auf dem grauen Spannteppich im Flur lag ein dicker schwarzer Fussel. Ich hob ihn auf. Die Küche war noch leer, die Kaffeemaschine noch kalt. Im Glaskasten des Supervisors flimmerten zwei Monitore. Niemand war da; die Leute mögen es nicht, am Morgen von einem Marktforschungsinstitut geweckt
zu werden.
Ich ließ mich auf einen der beiden Drehsessel fallen, rollte den Fussel wie einen Popel zwischen den Fingern, schnippte ihn weg und stieß schwer auf. So saß ich eine Weile, war satt und müde. Ich starrte auf den Monitor und mir war, als würden kleine, krakelige Strichwesen mit drei oder sechs Fingern an Armen und Beinen über die Bildfläche huschen. Männchen,
wie sie in den Höhlen der Steinzeitjäger und noch vor einem Jahr an den Wänden irgendwelcher Hyper-Galerien zu sehen waren. Von der Wärme und dem Flimmern eingelullt und müde wie ein Krieger, fielen mir die Augen zu.
»Uuurgghh raahhh uan aaa payiih!«
Der drohende Unterton der Stimme warf mich glatt aus dem Sessel. Ich war gerade dabei, wieder hochzukommen, als es knallte. Es war kein Knall. Es war, als würde jemand auf eine Boxbirne dreschen – elektrisch verstärkt. Ein unangenehmes Geräusch.
Ich rappelte mich auf und rannte nach hinten, direkt auf den Lärm zu, der aus einer angelehnten Tür kam. Das Büro war verraucht und dämmrig, die Fenster hinter den heruntergelassenen Jalousien geschlossen. Weiße Wände wie in den anderen Räumen auch, auch mit ähnlichen Möbeln
vollgestellt. Nur standen und lagen hier die verschiedensten Typen von Monitoren und Computern herum. Die überquellenden Papierkörbe, der Anflug von Chaos – es sah nach Arbeit aus. Kein fieser Mafiaschläger versuchte mit gezielten Schlägen aus einem einzelnen TEMPO-Mitarbeiter Daten herauszuschlagen. Auch die Zerstörungswut eines letzten Öko-Romantikers war nicht für den Knall verantwortlich -einzig eine einzelne junge Frau.
Birke saß mit dem Rücken zur Tür vor einem Bildschirm.
Ihre Faust ging auf und ab wie ein Kolben. Sie machte einen erstaunlichen Krach damit. Sie hatte mich trotz schlagender Tür noch immer nicht bemerkt.
Ich räusperte mich und fragte, ob ich ihr helfen könne. »Ach Scheiße«, sagte Birke, »ich kann es selbst nicht.«
Ihre Faust erhöhte noch mal die Frequenz und klatschte abschließend auf den Schreibtisch. Dann war Ruhe.
Sie drehte sich zu mir um.
»Sie haben mich wieder erwischt. Dabei bin ich mir dies- mal verdammt sicher gewesen, alles richtig gemacht zu haben. Aber den Deckel in der Kanalisation hab ich einfach übersehen. Wie blöd!«
Ich nickte.
Birke lachte leise. »Den einen habe ich noch mitgenommen, aber der andere war schneller. Glatter Blattschuß. Natürlich könnte ich das Programm knacken«, sie blinzelte mir listig zu, »aber ich will nicht. Es muss auch so klappen.«
Ich fragte, wessen Stimme das eben gewesen sei.
Birke wurde wieder ruhig. Es war, als würde sie mich erst jetzt bemerken. »Das war der Mac, er hat mir gesagt, dass sie mich ausgeknipst haben. Sag mal Eisenkolb, kannst du auch nicht schlafen?«
Ich sagte ihr, dass ich ausgezeichnet schlafen könne. Nur habe sich das heute Morgen nicht mehr gelohnt. Birke zuckte mit den Schultern. »Morgens gegen drei kann ich nicht mehr schlafen. Das ist die Hitze, die Stimmen oder sonst was. Da fahr ich hier her und setze mich an den
Rechner, streife durch die Datenspeicher oder spiele. Spielen beruhigt. Es ist wie Jogging für den Verstand. Heute hat er mich erwischt, morgen krieg ich ihn… Ich glaube, es wird Zeit. Koch doch schon mal Kaffee.«
Birke stand auf und ging nach draußen.
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