Vorgestern habe ich beim Fahrradfahren meinen rechten Handschuh verloren. Es hat geregnet, es war dunkel und kalt. Es war der erste echte Herbsttag. Die Wege im Tiergarten waren Schlammpisten und ich war bereit, deprimiert zu sein. Als ich zuhause war, habe ich mich aus den nassen Klamotten geschält und geflucht. Ich war glücklich. Ich bin nicht auf die U-Bahn ausgewichen. Ich habe es durchgezogen.

Das tolle an einer ganz kalten Hand ist das Gefühl, wenn sie wieder warm wird. Das kribbelt. Das ist gut. Ich habe meine rechte Hand den ganzen Abend lang immer wieder angeschaut. Großartig, so eine Hand. Am nächsten Morgen hat es wieder geregnet. Ich habe mich auf mein Rad geschwungen: Du kannst mich mal, Wetter!

Gewöhnlich halten wir uns in klimatisierten Räumen auf. Nicht nur körperlich. Wir sind auch geistig zunehmend in wohltemperierten Räumen unterwegs. Wir mögen eine Musik oder einen Text. Sofort wuseln die diensteifrigen Algorithmen unserer digitalen Welt hinter uns her und versuchen uns möglichst viele „wenn dir das gefallen hat, dann gefällt dir bestimmt auch das“ anzubieten. Das ist wie ein Buffet voller Lieblingsspeise. Du magst Sahnetorte? Hier ist noch viel mehr Sahnetorte. Schwarzwälder-, Mandarinensahne-, Quarksahne-, Eierlikör-Sahnetorte. Jede für sich bestimmt köstlich. In Summe = zum Kotzen. Mit Ideen ist es das Gleiche. Wir fressen die immer gleichen Ideen in uns rein. Entweder wir kotzen irgendwann, oder wir glauben, dass es nur diese Ideen gibt. Wenn wir dann auf eine andere stoßen, sind wir entsetzt:

Russlandversteher, Schwuchtel, Nazi, Lügenpresse, Volksverräter, Opfer!

Wir haben so großartige Hirne, wir haben so großartige Körper. Jede unsere Nervenzellen hat bis zu 10.000 Synapsen. Feuern wir sie an, fordern wir sie heraus? Nein, wir füttern sie mit dem immer gleichen Brei. Wir halten uns im Bällebad versteckt. Wir trauen uns keine Wahrheit zu. Wir haben die Macht als Konsumenten, als Rezipienten, als Bürger. Was machen wir damit? Wir trotten dahin, wo ist nach uns riecht, wo wir Bestätigung finden, wo es sich nach Herde anfühlt.

Super du, das fühlt sich gut an.

Kein Wunder, wenn wir alle immer wütender werden. Unsere Muskeln würden gern gespannt, das Adrenalin gebraucht werden. Die Synapsen in unserem Hirn täten nichts lieber, als sich neu zu vernetzen, aus dem großen Nichts etwas zu schöpfen. Aber wir lassen sie nicht. Wir bleiben auf den immer gleichen Spuren, Klaftertief unter unseren Möglichkeiten.

Vor einigen Monaten hatte ich auf einer Veranstaltung die Gelegenheit, James Lawrence (38) kennenzulernen. James Lawrence lief an 50 Tagen 50 Ironman hintereinander. Niemand hätte geglaubt, dass sowas zu schaffen ist. Er auch nicht. Sein finaler Trick war: Nicht aufhören! James glaubt, dass wir ca. 20% unseres Potentials nutzen, wenn wir an unsere Grenzen gehen! Das kurze Gespräch mit ihm hat mich über Monate inspiriert.

Überall und ständig ist zu hören und zu lesen, dass wir überfordert sind. Totaler Quatsch. Das Gegenteil ist wahr: Wir sind chronisch Unterfordert. Die zunehmende Wut in unserer Gesellschaft ist ein Zeichen dafür. Wut auf alles und jeden ist eine Autoimmunkrankheit unserer ungenutzten Potentiale. Wir stecken im warmen, flachen Wasser des Wohlgefühls fest und finden nicht die Kraft, den Schritt heraus zu machen. Dafür hassen wir uns. Und weil dieser Hass auf uns nicht sein darf, fangen wir an, andere zu hassen.

Es ist so einfach, diesen Zustand zu überwinden. Wenn ihr kein Fahrrad habt – stellt euch in den Regen! Riskiert ein Lächeln, wo es keiner tut! Nehmt bewusstseinserweiternde Substanzen und geht dann einkaufen. Macht euch nackig, wenn es kalt ist! Singt laut. Verliebt euch in die Falschen. Schlag den Kopf gegen die Wand, die ihr nicht seht. Lest wenigstens mal wieder „Fightclub“ von Chuck Palahniuk.

Wenn wir am Ende wieder allein auf dem Dach stehen und eine Entscheidung treffen müssen, sind wir ein großes Stück vorangekommen: Peng!

PS.: Ich habe mir gestern die Flammen auf meinem linken Unterarm bunter machen lassen. Sie müssen brennen. Ich habe jeden Stich genossen!

 

 

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