Den ersten, wackligen Sonnengruß machte ich 1981 in Karl-Marx-Stadt. Ich war gerade Anfang Zwanzig, hatte ein Jahr Gefängnis, Bewährung in der Produktion, Jobs als Heizer und Friedhofsarbeiter hinter mir. Das Theologiestudium in Naumburg am Katechetischen Oberseminar hatte nicht zu einem glücklichen Ende geführt. Ich würde nie von der Kanzel herab evangelischen Wahrheiten verkünden – darauf hatten sich die Evangelische Kirche und ich in einem langen, verständnisvollen Gespräch geeinigt. Dass die Staatssicherheit auch mit am Tisch, erfuhr ich erst später.

Ich war von Naumburg zurück nach Karl-Marx-Stadt gezogen und hatte keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Dafür hatte ich Glück; eine Freundin vermittelte mir die Wohnung eines Bekannten zur Untermiete. Der Freund hatte sich nach Ostberlin abgesetzt. Die Wohnung, bestehend aus ein Zimmer, einer kleinen Küche und einem Außenklo, teilte sich den Flur mit der Zweizimmerwohnung der Familie Rüger. Wir gingen uns, soweit es möglich war, aus dem Weg.

Gertrud, so hieß die Freundin, arbeitete damals beim Kulturstadtrat und war dort für Jugendkultur zuständig. Sie mochte die Gedichte, die ich schrieb. Gertrud kam mich manchmal nachts Besuchen. Den Zeitpunkt bestimmte sie, was an ihren komplizierten Familienverhältnissen lag, die mich nicht weiter interessierten. Wenn sie kam, tranken wir Rosenthaler Kadarka und vögelten. Ich las ihr ein paar neue Gedichte vor und wir sprachen darüber, was Literatur alles können dürfen müsste. Gertrud war eine wunderbare Liebhaberin.

Einmal brachte sie ein Buch mit, dass ihr Westbekannte geschenkt hatten. Es war ein Yoga Buch. Ich glaube, es war von Swami Yogananda. Gertrude meinte, dass ich doch fernöstliche Mystik und so was mögen würde. Ihr Bekannter jedenfalls hatte erzählt, dass Yoga ein Weg zur Selbsterkenntnis sei und das wäre ja nun definitiv was für mich. Ich erinnere mich nicht mehr an den Titel des Buches. Ich weiß aber noch genau, was das Buch mit mir machte.

Die DDR Anfang der Achtziger war ein Gefängnis mit bröckligen Mauern. Was immer auch in der Welt draußen passierte – irgendwer warf ein Buch, eine Kassette oder eine Schallplatte durch einen der Risse in der Mauer. Hinter jeden Riss stand jemand, um die Informationen aufzufangen, sie weiterzugeben, zu vervielfältigen.

Jedenfalls lag das Buch ein paar Wochen auf dem Boden neben meinem zerwühlten Bett, neben ein paar leeren Rotweinflaschen. Mystik war für mich damals eher christlich geprägt; Meister Eckhart und die Präsenz Gottes in allem Tun, Augustin, Thomas, Dietrich von Freiberg. Der Osten war Rot und was dahinter lag war so ferner Osten, gleich hinter der Quelle der ewigen Jugend.

Mit wachsender Begeisterung las ich von der Kraft des Atems, vom Körper als Tempel. Was mir damals völlig neu war: die Praxis zur Theorie, der Körper als Beweisführung. Die Versenkung ins Tun. Das war wieder nahe an Eckart. Ich begann zu üben.

Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich heilfroh, dass ich mir damals keine bleibenden Schäden zugezogen habe. Ich habe mich gequält, keine Rücksicht auf meine Knie oder Wirbelsäule genommen. Ich war Anfang Zwanzig und hatte den Körper eines Sportlers. Da ging was.

Gertrud verschwand irgendwann durch die Mauer nach Karlsruhe. Keine Ahnung, weshalb Karlsruhe. Das Buch blieb. Yoga blieb. Sonnengruß und Kopfstand wurden mir zur täglichen Routine. Sie kamen mit, als ich 1985 nach Westberlin zog. Das Buch verschenkte ich weiter.

Im Westberlin der späten Achtziger bekam ich schnell Kontakt zu Psychoaktiven Substanzen. Aber wie verkatert ich am Morgen auch war: Sonnengruß und Kopfstand. Ich bekam meinen ersten Job in einer Werbeagentur als Texter. Sie zwangen mich mit Geld. Ich blieb. Sonnengruß und Kopfstand, dazu die Neunziger. Elektrobeats und Neue Ökonomie, unsere Revolution war das Internet; ich hatte ein Zeitfenster für mich. Ich hatte meine Sonnengrüße und den Kopfstand. Heute weiß ich, dass ich völlig falsch Stand. Aber ich stand. Für die Yogastudios war ich verloren. Ich schrieb einen Roman, heiratete, wurde geschieden. Verliebte mich unsterblich, wurde Vater, ging fast pleite, lernte Meditieren, machte Sonnengruß und Kopfstand. Manchmal Schulterstand und Pflug. Als der Bauch störte, begann ich auf meine Ernährung zu achten. Zeit verging. Und wenn mich jemand fragte, wie ich das alles schaffte, dachte ich „Sonnengruß und Kopfstand.“

Dann traf ich vor einem Jahr meinen alten Freund Silvo wieder. Er war mir eine große Inspiration. Silvo hatte sich entschieden, Schriftsteller zu sein und dafür auf ein bürgerliches Leben verzichtet. Davor hatte ich großen Respekt. Ich hatte auf das Schriftstellersein verzichtet und mich mit Verve ins Bürgerliche gestürzt. Silvo praktizierte Yoga. Er nahm mich mit zu Bikrim-Yoga. Dieser Stil wird in einem, auf 38°C erhitzten Raum, praktiziert, und es werden, in strenger Abfolge und mit klarer Ansage, die immer gleichen Formen geübt. Nach einer Zeit war uns das zu konfrontativ. Wir praktizierten bei Jivamukti. Dieser Stil kommt aus New York, setzt Flowyoga auf Speed, mixte Mantras mit Techno und ist unheimlich damit beschäftigt, total cool zu sein. Aber sie pflegen den Sonnengruß.

Wir wechselten in ein kleines Ashtanga Sudio in der Brunnenstraße, in der Mysore Stil praktiziert wird. Jeder übt für sich, kein Frontalunterricht, die Lehrer gehen von einem zum anderen und greifen ein, um zu korrigieren. Die Atmosphäre ist ruhig und konzentriert. Ich lernte den Sonnengruß neu. Es fühlte sich großartig an. Ich lernte einen richtige Kopfstand.

Ich lerne die Weisheit meines Alters. Kleine Schritte, aber Stetigkeit. Das eigene Tempo finden, sich nicht mehr vergleichen. Im Zweifel sind die neben mir 30 Jahre jünger. In der Praxis und im Leben weniger der Kraft vertrauen, sondern mehr dem Moment. Es als Lebensaufgabe sehen, gelassener werden. Dankbar dafür sein, dass noch soviel geht.

Yoga heißt nicht, sich ins Heilige davonzumachen. Yoga heißt, das Heilige in die Welt zu holen.

Om.

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