Ich sitze mit Sissel und Hamish am Weiher. Es ist kurz nach 1Uhr in der Nacht. Der Himmel ist klar, die Sterne leuchten. Die Frösche haben Schluss gemacht, die Zeremonie ist gerade zu Ende gegangen. Ich hatte eine atemberaubende Vision; ich weiß noch nicht wie, aber sie wird mich verändern. Lustig. Jede einzelne Erfahrung hier wird mich verändern. Aber die Vision dieser Nacht hat mich noch anders erwischt – als Mann, als Deutscher, als ein Mensch mit Verantwortung.

Tiefe Konzentration nach einem großen Becher Aya. Plötzlich spürte ich eine andere, starke Präsenz. Ich habe das Gefühl, die Augen zu öffnen. Vor mir, neben mir, um mich herum, sitzen andere Männer. Sie sind in meinem Alter, ein paar Jüngere, ein paar Ältere. Ihre Arme sind stark, ihre Körper kompakt, sie sind mir ähnlich. Ich bin einer von ihnen, das spüre ich sofort. Fast alle haben lange Haare, viele tragen sie als geflochtene Pferdeschwänze. Ich sehe Tattoos auf der Haut und tiefe Narben. Die Männer sind still, wach, voller Energie. Einer der Männer hob den Kopf, drehte ihn zu mir. Ich saß Witz in seinen Augen blitzen. Ich nickte ihm zu. Er schmunzelte. Wir waren Krieger, Saxen, so genannt nach dem Einschneidigen Hiebschwert, dem Sax. Die Energie, die ich in den Männern spüre, entsprach meinem Energiemuster; immer bereit etwas zu starten, gern bereit zu provozieren, zu necken, viril, loyal, nicht bereit, sich unterzuordnen. Die Saxen, als sie von der Kriegergemeinschaft zu einem mächtigen Stamm wurden, kannten keine Könige, entschieden ihr Geschick demokratisch, kämpften lange, hart und blutig gegen die Franken, das Kaisertum und für ihren alten Glauben. Das war meine Herkunft, das waren meine Väter, wie sie kann ich nicht zuhause sitzen, muss immer in die Welt, neue Dinge anzetteln, Projekte starten, war nicht für ein Leben am Herdfeuer oder vor dem Fernseher gemacht. In den letzten dreißig Jahren habe Firmen gegründet, gekauft, verkauft, mich verzockt, war pleite und reich, habe mich wieder aufgerappelt; noch immer kann ich keiner Idee widerstehen. Mich an der Welt zu reiben ist die Art, wie ich mich spürte. Ich brauchte das Gefühl des letzten Abends vor der Schlacht, wenn die Vögel besonders schön singen und ein roter Schleier über dem Mond hängt.

Das bin ich.

Ich zog mit den Kriegern, starb und stand wieder auf. Es war der 22. Juni 1941, im Osten graute der Morgen. Ich stand neben dem Führungspanzer, der Angriffsbefehl stand unmittelbar bevor. Warum, wollte ich wissen, warum? Und vor allem: Warum für diesen Idioten, für diese Ideologie? Sie hatte nichts, aber auch gar nichts mit uns zu tun.

Widukind beugte sich vom Turm des Kampfwagens zu mir herunter. Seine Augen blitzten, er lachte. Die Krieger der dunklen Zeit fahren die Ernte ein, sagte er. So hat es der Herr Shiva bestimmt – erntet so viele Seelen wie möglich und bringt sie nach Hause. So steht es in der Bhagavad Gita. Es gibt kein Gut oder Böse, kein Richtig oder Falsch. Hingabe ist die wahre Freiheit! Bringt die Seelen Heim!

Rauchsäulen stiegen im Osten auf, Motoren brüllten. Mein Stamm war brillant darin, Seelen zu ernten – Krieger des dunklen Zeitalters. Einmal Moskau und zurück; sie machten einen großartigen Job.

Ich war erschüttert. Ich war verwirrt. Einer von diesen – das war ich auch. Aber die Göttin war noch nicht fertig mit mir. Der Trip ging weiter. Die Seelen der Saxen brauchten meine Hilfe. Mein Stamm brauchte meine Hilfe. Das dunkle Zeitalter war vorüber, auch wenn alte Tradition und altes Denken gerade wieder überall auf der Welt den Kopf erhob – das waren Nachhutgefechte. Sie würden noch blutig sein, aber sie würden nichts mehr am Ausgang ändern. Das Zeitalter des Lichts war nicht mehr aufzuhalten. Aber für das neue Zeitalter wurden andere Krieger gebraucht. Mein Stamm wusste es. Er suchte Vergebung bei mir. Und wenn nur einer vergibt, dann ist allen vergeben. Ich war ein Krieger des Lichts; ein Saxe, aber mehr Liebhaber als Kämpfer, mehr Vater als Krieger, meine Beute war Verstehen.

Ich vergab ihnen.

Den Rest der Zeremonie weinte ich – vor Glück, vor Erschrecken. Vor Glück, dass ich plötzlich in jeder Zelle wusste, woher ich kam, dass ich nur so sein konnte, wie ich war. Dass es gut war. Vor Erschrecken davor, was es bedeutete und noch bedeutete, von welchem Ersetzen ich auch ein Teil war.

Aquiles singt mir ein Ikaros, streicht mir über den Kopf und drückt meine Hände: Wie stark du bist. Ich spüre die Schwingungen der Ikaros, spüre ihre heilende Wirkung.

Alles ist gut.

Hamish nimmt mich in den Arm. Sissel hält meine Hand. Eine Wolke schiebt sich vor den Mond und als sie weggetrieben ist, scheint der Mond heller.

Ich weiß woher ich komme, sage ich.

Ich habe begriffen, wie arrogant und oberflächlich ich bin, sagt Hamish.

Ich bin frei, sagt Sissel.

Wir müssen schlafen.

 

Ich bin völlig alle. Glücklich. Mein Kreislauf wackelt. Ich habe das Gefühl, jeder Windhauch könnte mich davontragen. Caro bringt mir Salz zum Frühstück, das erdet. Ich war in all den Tagen nicht so still. Die ganze Gruppe ist stiller. Jeder ist erfüllt von der Präsenz der Göttin und was sie jedem Mitgegeben hat. Lee aus Hong-Kong, die bis jetzt relativ unberührt durch die Tage gegangen ist, hat es völlig zerlegt. Sie kommt nicht runter vom Klo und glaubt, sie habe sich eine Infektion eingefangen. Es ist die Medizin, der du nicht entkommen kannst – was nicht rein ist, muss raus. Du kannst es zurückhalten, aber nicht für immer. Auch chinesische Juristinnen mit einer Haut von Samt und dem Körper einer Achtzehnjährigen kommen nicht rein durchs Leben. Ich sehe, wie Candy in ihrem Kopf einen Plan nach dem anderen schmiedet, spüre Sorge um Colleen, die glaubt, Dämonen in ihrer Handtasche zu tragen, sehe Dave beim Blühen und Glühen zu.

Debbie beginnt verschiedene Produkte anzubieten, die man ab morgen im Speisesaal kaufen kann. Das ist ein eindeutiges Zeichen, dass unsere Zeit zu Ende geht. Mir wird das Herz schwer. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Urwald mich mit seiner Zärtlichkeit so verzaubert. Hätte ich wissen müssen. Auch der Hoh Rain Forest hat mich damals so berührt. Das ist eine andere, wunderbare Geschichte.

Die letzte Zeremonie ist ein Fest, kündigt Cora an. Die Mastros und Mastras werden spezielle Ikaros für uns singen, um unsere Erfahrungen zu versiegeln und uns den Beistand der Geister zu sichern. Ich bin müde, fertig, unkonzentriert. Ich kann keinen klaren Focus halten, bin schon beim Yoga fast eingeschlafen. Ich bin so randvoll mit Eindrücken, die letzte Nacht hat mich völlig geschafft. Ich mache etwas, was ich bis jetzt noch bei keiner Zeremonie gemacht habe – ich lege mich auf meine Matte und lasse es über mich ergehen. Ich verabschiede mich von den Dudes, ich verabschiede mich von den Fröschen. Ich habe fertig.

 

Am nächsten Morgen schalte ich zum ersten Mal das Telefon an, schick eine WhatsApp nach Hause. Ich habe Sehnsucht, aber will noch nicht reden. Am Vormittag ist unsere letzte Versammlung in der Maloka. Es geht um die Integration des Erlebten – wir sollen vorsichtig sein, es langsam angehen lassen, der Medizin vertrauen. Wer kann, soll noch ein paar Tage im Wald, in der Natur bleiben. Kann ich nicht.

Ayahuasca hat mich klar und gelassen gemacht; keine wilde Euphorie, wie es sonst nach solchen Gruppendynamischen Prozessen oft vorkommt. Unsere Onanyas, unsere weisen Meisterinnen und Meister kommen, sich zu verabschieden. Sie haben für jeden Reisenden ein Stück Ayahuasca mit, das sie mit Energie und Gebeten getränkt haben. Ich hole mir mein Stück von Aquiles, auch von Ellena hole ich mir Segen. Wir kichern und ich muss weinen. Es fühlt sich zärtlich an.

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