Ich trinke mehr Ayahuasca. Die Reise beginnt, noch bevor die Lichter verlöscht sind: Farben, Vibrationen und Schwingungen. Alles Gegenständliche löst sich auf und beginnt zu Wabern; unstetig und unzuverlässig. Ein Zitat des Buddhas fällt mir ein: Die wahre Natur der Dinge sehen.
Ich sehe sie überdeutlich. Mein Kopf ist darauf vorbereitet. Mein Körper nicht. Ich halte mich an meiner Schüssel fest, kotze gewaltig. Ich habe das Gefühl, dass es mich zerreißt. Mein Gesicht fließt weg. Ich spüre die Medizin wie Gift in mir, Säure, die sich durch meinen Körper frisst. Ich versuche Gleichmut zu bewahren, aber die aufkommende Panik reißt sie einfach weg, wie die Flut einen Holzdamm. Ich werde mißbraucht; bin hier und jetzt einer seltsamen Sekte ausgeliefert. Die Gesänge der Schamanen sind wie Spottlieder auf meine Hilflosigkeit in meinen Ohren. Ich fühle mich kraftlos, gehirngewaschen, ausgelaugt. Ich will raus, nicht länger Teil dieses Wahnsinns sein, suche meine Taschenlampe, will fliehen. Aber dann erinnere ich mich an Debbies Worte: Was immer auch passiert in den nächsten Tagen – wenn du von der Seite der Liebe kommst, kannst du nicht verloren gehen. Also versuche ich mit aller Kraft, mein Herz offen zu halten. Die Medizin arbeitet nicht gegen mich, sie ist für mich da. Was raus muss, muss raus. Wieder schütteln mich Kotzkrämpfe. Ich haue nicht ab – ich schwanke aufs Klo.
Das gilt als eine besondere Auszeichnung, die Ayahuasca dir zuteilwerden lassen kann: Kotzen und Scheißen gleichzeitig. Heidewitzka, was für alte Scheiße! Ich weiß nicht, aus welchen Tiefen meiner Geschichte das kommt. Aber ich fühle mich danach wesentlich leichter. Langsam klärt sich meine Stimmung wieder, die Panik lässt nach. Ich erinnere das Gefühl der Hilflosigkeit, kann es aber zuordnen; Einzelzellenklaustrophobie im Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Karl-Marx-Stadt: Tür auf, Gesicht zur Wand, Nr. 34 vortreten! 3 x 7 Schritte mit Klo, Waschbecken und Bett. Eine Glühlampe von der Decke, das Fenster mit Glasziegeln vermauert. Es ist mehr als dreißig Jahre her. Es war nicht alles schlecht in der DDR, har, har. Schwamm drüber. Ich habe verziehen. Ich sitze auf dem Klo, schaue auf und vor mir leuchtet Candys Bikinioberteil, das am Haken an der Klotür hängt. Gott, was für Titten! Ich lache und gehe vorsichtig zurück in die Maloka.
Kaum bin ich wieder auf meiner Matte, spüre ich, dass noch nichts vorbei ist. Tief in mir arbeitet es weiter. Ich sitze im Halblotus und konzentriere mich auf meinen Atem. Die Ikaros kommen und gehen, es gibt Momente von reinem Glück, von tiefem Verstehen; alles gleichzeitig. Die Zeit löst sich mit der Kausalität der Ereignisse auf. Alles findet jetzt statt, mit meiner Aufmerksamkeit steuere ich meine Realität. Erschreckt mich das? Nein, langsam werde ich wieder klarer. Mein Herz hat keine Probleme mit den Erschütterungen des Verstandes. Es ist voller Nachsicht.
Die Zeremonie ist vorbei, ich will raus aus der Maloka. Ich bin unruhig, fühle mich getrennt von der Gemeinschaft. Die Göttin ist noch nicht fertig mit mir. Ich nehme meine Decke, meine Taschenlampe, die Zigaretten und mache mich auf den Weg in mein Tambo. Ich hätte Furcht vor dem Weg dahin erwartet, aber der Dschungel ist nicht dunkel und gar nicht fremd. Ich erkenne die Energielinien in den Bäumen wieder, denen ich während der Zeremonie begegnet bin, dem Vibrieren und Flimmern von energetischen Feldern. Die Dunkelheit während meiner Reise war viel massiver und sie war bodenlos.
Ich liege unter dem Moskitonetz in meinem Tambo und höre dem Dschungel zu. Regen fällt als sanftes Rauschen auf das Dach und die Blätter. Ich träume, dass ich nicht schlafe oder ich schlafe nicht und träume dabei. Es wird Tag, das Schwarz weicht einem ersten Grau. In mir steigt etwas Dunkles auf, ich fürchte noch mal kotzen zu müssen, aber stattdessen beginne ich aus tiefster Seele zu weinen: auch das ist Reinigung. Mit den Tränen weiß ich, woher das Gefühl des Missbrauchs kommt, dass mich während der Zeremonie so gequält hat: Karl-Marx-Stadt 1979, Kaßberg, Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums der Staatssicherheit. Nach Wochen der Isolationshaft war mein „Vernehmer,“ wie sich der Stasi-Offizier selbst bezeichnete, mein bester Freund geworden. Er verstand mich. Er war der einzige, der mit mir redete. Er brauchte meine Hilfe. Woher sollte die Staatssicherheit denn wissen, was wirklich los war? Jeder log sie an; engagierte Menschen wie mich, die an das Gute glaubten, die brauchten die Sicherheitsorgane.
Ich redete.
Das Gefühl, von der Staatssicherheit missbraucht und benutzt worden zu sein, war so total und widerlich, dass ich es nicht aushielt, auch als ich mich nach der Entlassung aus dem Knast mit aller Kraft davon gelöst hatte. Ich trennte das Gefühl der Ohnmacht, des Missbrauchs von meinen Erinnerungen und vergrub es am tiefsten Punkt meines Vergessens. Dort lag es wie atomarer Endmüll, auf dem nichts Gesundes mehr wachsen konnte.
Ich habe mir den Moment der Schwäche nie verziehen. Das ist das brutale an jedem Missbrauch: Der Missbrauchte fühlt sich schuldig. Der Täter weiß das und genießt.
Ich lag in meinen Tränen, ich spürte den Schmerz und die Verlorenheit noch einmal und konnte mir endlich verzeihen. Ich fühlte, wie es vorbeiging, wie die Medizin die Erinnerung ans Licht brachte und selbst zu Licht wurde. Ich nahm mich in den Arm. Ich ließ meine Tränen laufen.
Ich fühlte mich frei.
Es ist wichtig, anderen Menschen zu verzeihen, was immer sie auch getan haben. Aber am wichtigsten ist es, sich selbst zu verzeihen. Es ist der einzige Weg zu wirklicher Heilung. Erst dann ist Vergangenheit wirklich vergangen. Ich begreife es, indem es mir passiert. There is no greater power, than the power of good-bye, sang Madonna. Man darf die alte Queen of Pop nie unterschätzen.
Danke.