Es war einmal: Früher, vielleicht noch vor 20-30 Jahren, gab es eine ungefähr zuverlässige Einteilung der politischen Welt in Links/Rechts, Konservativ/Progressiv. Heute, 2020, scheint nichts mehr davon zuzutreffen. Es ist ein erbitterter Kampf um die Deutungshoheit unserer Zeit entstanden, der zum Teil absurde Züge annimmt. Vor wenigen Tagen zogen ca. 20.000Menschen durch Berlin, um gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung zu protestieren. Vielleicht ein paar mehr, sagte die Polizei, die seit Jahren sowas verlässlich schätzen kann. 1.3 Millionen, verkündeten die Veranstalter danach mit stolzgeschwellter Brust. 1.3 Millionen sind so absurd an der Wirklichkeit vorbei – und doch wurde diese Zahl von den Sympathisanten der Bewegung hemmungslos als Realität anerkannt und weiterverbreitet. Ein Facebook-Dialog: „1.3 Millionen haben protestiert. Wacht auf!“ „Es waren 20.000.“ „Okay, einigen wir uns darauf, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt.“ Nein. Die Mitte von einer realen und einer fiktiven Zahl bleibt die reale Zahl. Was sagt der Hutmacher bei Alice im Wunderland: „Ich bin nicht verrückt. Meine Realität als Ihr einfach anders ist.“ Das klingt lustig, ist es aber nicht. Eine (aggressive) Minderheit ist auf der Suche nach einer anderen Realität. In der wird die Welt von einer finsteren Verschwörung beherrscht, trinken „Eliten“ das Blut kleiner Kinder, werden wir von Echsenmenschen manipuliert usw.

Der neue Riss durch die Gesellschaft verläuft auf der Trennlinie von Rational und Irrational. Auf der einen Seite die Überzeugung, dass die Welt erkennbar ist, dass es immer eine Frage der Zeit und der Methoden ist, bis sich neues Wissen generieren lässt; dazu gehört das Denken in Korrektur, das Aushalten von Ambivalenzen, die Bereitschaft, mit Irrtümern zu leben und Hilfskonstruktionen als Hilfskonstruktionen anzuerkennen. Das bedeutet auch, im Ernstfall mit Zweifeln zu leben – aber nicht Zweifeln an der Welt, sondern Zweifeln am eigenen Erkenntnis- und Verständnisstand. Ein schönes Beispiel dafür sind Gravitationswellen. Von Einstein 1916 postuliert, konnten sie erst 2015 nachgewiesen werden. Das rationale Denken braucht Geduld. Es ist, so unbequem das auch klingt, ein Leben in eigener Verantwortung.

Das Irrationale Denken will auch erkennen – noch mehr aber will es Erspüren und empfinden. Das Irrationale ist auf der Suche nach dem Rest in der Welt, der nicht mehr erklärbar ist, nach dem magischen Moment, an den es die Verantwortung angeben kann, der die unglaubliche Komplexität unserer Existenz transzendiert – ihm einen Sinn gibt, der weit über das eigene Ich hinausreicht. „Es gibt Dinge, die kann man nicht erklären,“ statt „Es gibt Dinge, die kann man noch nicht erklären.“ Wer Sehnsucht nach Einhörnern hat, sieht auch Dämonen.

Rationales und Irrationales Denken stehen sich gerade unversöhnlich gegenüber. Für das Irrationale Denken ist das Rationale ein direkter Angriff auf die verzauberte Welt und da etwas von diesem Zauber in jedem Menschen wohnen soll, ist es auch ein Angriff auf die eigene Einmaligkeit. Deshalb steht das empörte ICH auch so radikal im Mittelpunkt der aktuellen Proteste.

Irgendwie könnte man ja sagen, wenn das empfindsame ICH ein wenig Weihnachten braucht und wenn „Engel“ die Geschenke bringen sollen, ist nichts dagegen einzuwenden. Leider sind die Engel aber über die Jahre böse mutiert – in ihrem Säckchen stecken jetzt Wissenschaftsleugnung, Antisemitismus und QAnon-und andere Verschwörungs-Erzählungen (https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/qanon-verschwoerungsideologie-zum-mitmachen-a-8656ef8e-b2dc-4b90-a09f-8cb6e4a4db19). Wie konnte es dazu kommen?

Es gibt so Momente, bei denen man erst zurückblickend erkennt, dass von da an die Dinge ins Rutschen gekommen sind. Für mich war die große Anti-TTIP Demonstration in Berlin 2015 so ein Moment. Der Protest gegen TTIP war fundamental und berechtigt – unter Ausschluss der Öffentlichkeit, im Hinterzimmer der Öffentlichkeit, war ein elementares transatlantisches Abkommen verhandelt worden. Sozial- und Umweltstandards wurden als Handelshemmnisse eingestuft, ebenso Standards wie die DIN-Norm. Wer sich das mit Abstand nochmal anschauen will, findet das auf Wiki schön zusammengefasst. (https://de.wikipedia.org/wiki/Transatlantisches_Freihandelsabkommen)

Als die politisch Verantwortlichen, allen voran die EU Kommission, erkannten, wie ihnen die öffentliche Diskussion entglitt, war es schon zu spät. Der gesamte Prozess hatte sich diskreditiert – es ging in der Öffentlichkeit nicht mehr um Korrektur, sondern um Verhinderung, Fundamentalopposition.

Damals hat begonnen zueinanderzufinden, was heute traurige Normalität ist – Allianzen der Irrationalität, eine Sehnsucht nach Kollaps, eine Kongruenz von „Früher war alles besser“ und „Systemwechsel jetzt,“ deren Grundton die permanente Erregung ist. Mir ist auf der Großdemo diese Art von Querfront zum ersten Mal begegnet; aus Anti-Imperialismus wurde Anti-Amerikanismus, da ist es nur ein kleiner Schritt zum Antisemitismus. Vorn liefen der DGB und Attac, aber in ihrem Windschatten formierte sich die neue Querfront. Die Rotschilds wurden angeklagt, Impfgegner waren am Start; damals waren Chemtrails noch ein großes Thema, um die Mikrochips in die Menschen zu sprühen. Achtung, Ironie: Dafür gibt es heute ja die Impfpflicht, die es nicht gibt. Compact marschierte mit und Pegida zeigte Flagge. Über allem schwebte das Chlorhuhn als Menetekel. Und ob die AfD in Deutschland, LePenn in Frankreich oder Trump mit „America first“ in den USA – die Populisten und Irrationalsten haben seitdem mächtig Wind unter die Flügel bekommen.

Was dabei zwischen Gestern und Morgen auf der Strecke bleibt ist „Heute,“ ist die Möglichkeit, dem Erkenntnisgewinn bei der Arbeit zuzusehen, in Korrektur zu denken. Und jetzt kommt der eigene Beitrag: die Apostel des Irrationalen hätten es nicht so weit gebracht, wenn wir, alle die sich für Rationalisten halten, ihnen nicht Tür und Tor geöffnet hätten. Ein Bespiel meiner eigenen Verfehlung, leichtgemacht: Ich habe meinen Kindern Globuli gegeben. Ich halte Homöopathie für ausgemachten Mumpitz – etwas so weit zu verdünnen, bis es keine Substanz mehr enthält, das Ganze „Potenzierung“ zu nennen und darauf zu setzen, dass im Inneren der Substanz eine „geistige Kraft“ aktiviert wird, wie Samuel Hahnemann es postulierte, ist solch ausgemachter Quatsch, dass es keiner Diskussion bedarf. „Wer heilt tut Recht,“ lautet ein Zitat von Hippokrates. Hat Homöopathie also Recht? Als rationaler Mensch weiß ich um das gewaltige Selbstheilungspotential des Menschen. Wenn ich meine Kinder nach einer Schramme oder Übelkeit in den Arm genommen und ihnen ein paar Globuli unter die Zunge gepackt habe, habe ich genau Das getan – ich habe ihre Selbstheilungskräfte aktiviert und ihnen Vertrauen in sich gegeben. Aber – mein Fehler – ich habe der Irrationalität eine Tür geöffnet. Das ist nur ein Beispiel. Viele meiner Freunde und Bekannten aus den Neunzigern, mit denen ich gemeinsam meditierte und schamanisierte, sind „Heiler“ und „Coaches“ geworden. Einer ihrer Lieblingsverwürfe ist, die Pharma-Industrie etc. wolle nur Profit machen. Machen es die neuen Heiler für Umme? Natürlich nicht. „Alternativ irgendwas“ ist schon lange ein Industriezweig geworden, der mit allen Mitteln um Marktanteile kämpft. Es geht anders: Als meine Frau an Krebs erkrankte, habe ich einen alten Freund angerufen, Dr. med., großer Freund der Evidenz basierten Medizin und TCM Arzt. Seine Ansage: natürlich Chemo, dazu eine individuelle Mischung chinesischer Kräuter, um die Nebenwirkungen abzufedern. Wenn das Elend nicht mehr auszuhalten war, eine dicke Tüte Cannabis und ein Speckbrot. Speck erdet. Klassische Schulmedizin und Phytomedizin; Handauflegen gegen den Schmerz. Wir müssen die Möglichkeiten erweitern, statt sie einzuschränken; Integration statt Separation. Gerade wird mächtig separiert; Identitätspolitik und neuer Nationalismus. Ganz Facebook ist voll von Bauanleitungen für Mini-Sekten. Faule Zauberer, spärlich Beleuchtete, zu spät gekommene Yogatanten, Kleingewerbetreibende in Sachen Sinn bieten ihre Dienstleistungen feil. In der Art und Weise, wie sie ihre Business-Modelle errichten, stecken sie knietief im Neoliberalismus. Erst ein paar eigene Begriffe, natürlich gespeist aus geheimen Informationen, dann ein Gratis-Buch, dann skalieren! Jeder, der von der „Gefährlichkeit“ des Impfens überzeugt werden kann, klebt am Fliegenfänger, wird zum Abo-Kunden; besser kann es nicht laufen. Fehlgeleitete Krebsopfer pflastern ihren Weg. Schuld ist immer das „System.“

Wir waren zu freundlich. Wir ertragen Pfaffen in Talkshows und lassen uns von Imamen die Befindlichkeit von Menschen erklären, die vor der Religion geflohen sind. Das muss aufhören. Homöopathische Fläschchen sollten zumindest die Aufschrift „Enthält keinerlei Wirkstoff“ tragen. Das Wort „Seelsorge“ muss verboten werden. Wir brauchen eine zweite Renaissance des Rationalen. Wir müssen ertragen lernen, dass der Sinn des Lebens darin besteht, es gut mit andere zu leben. Nicht mehr – aber verdammt nochmal auch nicht weniger. (https://www.youtube.com/watch?v=E_jWcIDqXq0) Jeder einzelne muss dem grassierten Irrationalismus in seiner eigenen Lebenswelt die Tür weisen. Aber: Die Welt ist nicht entweder oder. Die Welt ist ein entschiedenes Sowohl-als-auch. Nichts in ihr ist alternativlos; es gibt immer auch einen anderen Weg zum Ziel. Spezialisierung ist was für die, die es nicht anders können. Wir müssen Meister in mindestens zwei Welten werden. Die zweite Welle des mitfühlenden Rationalismus muss mit knochentrockenem Verstand UND mit großen offenen Herzen geführt werden. Der Zauber eines Sonnenuntergangs ist der Zauber des Tanzes von Atomen; die Einmaligkeit unseres Seins besteht überall auf der Welt aus den gleichen Teilchen, deren konkreter Aufenthaltsort sich nicht einmal mit Sicherheit bestimmen lässt. Wer glaubt, die Wahrheit zu kennen, muss zuerst zuhören lernen. Es gibt nicht die eine Wahrheit, noch gibt es auf der Welt zweimal die gleiche Art sie zu verstehen. Und doch gibt es Dinge, die sind nicht verhandelbar: Auf unserem Planeten gelten die Gesetze der Physik. Der Erde ist eine Kugel. Eine Meinung steht nicht mit einer wissenschaftlichen Erkenntnis auf einer Stufe. Eine Lüge wird nicht Wahrheit, wenn sie oft wiederholt wird. Wer nicht angeschrien werden will, muss selbst aufhören zu schreien.

Wir müssen den Mut haben, dieses Land, diesen Kontinent und diese Welt großartig finden zu dürfen – trotz aller Arbeit, die noch zu tun ist, trotz aller Korrekturen, die nötig sind. Wir waren von uns selbst fasziniert und von der eigenen Erregung mitgerissen. Jetzt ertragen wir die Selbstfaszination und permanente Erregung der anderen nicht.

Das meckernde Bewusstsein ist das Gegenteil des kritischen Bewusstseins. Wenn wir einfach aus Bequemlichkeit mitmaulen, dem meckernden Bewusstsein Raum geben, statt dem Gemecker entgegenzutreten, wenn wir beim großen Entweder-oder-Spiel mitmachen, dann füttern wir den Irrationalismus. Wenn wir vom radikalen Systemwechsel mitschwadronieren, ohne ganz konkret zu sagen, was es heute bedeutet, dann füttern wir den Irrationalismus. Wenn wir Panik verbreiten, dann sind wir dieser Irrationalismus.

Wir haben zwei mächtige Instrumente, um Heute zum Besten Heute aller Zeiten zu machen – einen knochentrockenen Verstand und ein großes offenes Herz.

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