I´m a loser, baby (so why don´t you kill me), Beck
An dem Tag, an dem ein Nazi-Amokläufer in Halle versuchte, erst die Synagoge zu stürmen und dann, mehr oder weniger wahllos, zwei Menschen erschoss, las ich in der Welt einen Bericht über eine Studie des Max-Planck-Institutes. Rein statistisch wurde der Frage nachgegangen, bei welcher Gruppe von Männern die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, schon vor dem Eintritt ins Rentenalter zu sterben. Die Antwort: die Gruppe der schlecht Ausgebildeten, wenig Verdienenden, mehrheitlich arbeitslosen Männern zwischen 30 und 59. Bei ihnen liegt das Risiko, schon vor der Rente zu sterben, 8 x höher als bei der gebildeten, beschäftigten Vergleichsgruppe. In Ostdeutschland gehören 14% zu diesem Personenkreis.
Die Studie vom Rostocker Max-Planck-Institut für demographische Forschung erklärt kein „Warum.“ Das gibt die Datenlage nicht her. Aber ungebildet, arbeitslos und in sozial prekärer Lage – da breitet sich ein breites Portfolio von möglichen Todesursachen vor dem inneren Auge aus; Alkohol- und Drogenmissbrauch, falsche Ernährung, fehlender Zuwendung zu sich selbst, sozialer Vereinsamung und emotionale Verwahrlosung bis hin zum klassischen Suizid – Männer begehen im Durchschnitt 3x häufiger Selbstmord als Frauen.
Es ist der Prototyp des (mittel-)alten weißen, nicht-privilegierten Mannes, der hier beschrieben wird und der sich selbst zugrunde richtet. Er ist der gesellschaftliche Kollateralschaden. Da der weit davon entfernt ist, ein Sympathieträger zu sein, hält sich der gesellschaftliche Schmerz darüber in Grenzen. Es sind, kurz gesagt, die Männer die niemand mehr mag und die niemanden mehr mögen; ewig Gestrige halt, Arschlöcher. Nebenbei sind es die Gebrochenen, die von sich selbst Verlassenen, die ihr Leben nur noch als Scheitern wahrnehmen; deren Kraft nur noch reicht, gegen etwas zu sein: die Ausländer, die Juden, die Schwulen, die Lesben, die Frauen, die Erfolgreichen – die Anderen.
Die Synchronizität zwischen Halle und der Planck-Studie liegt in der sozialen Konstitution; sozial vereinsamt und gesellschaftlich isoliert, die frühen eigenen Tod billigend in Kauf nehmend; mit anderen Einsamen über die sozialen Netzwerke im Hass verbunden – das beschreibt den Amokläufer von Halle. Er ist ein Frühvollendeter seines Scheiterns. Er hat sich eine Synagoge als Ziel ausgewählt. Es hätte auch eine Moschee, eine Kirche, eine Kita, eine Schule sein können. Natürlich ist er ein Nazi. Dort, wo das gesellschaftliche Tabu am größten ist, spritzt die Scheiße am weitesten.
Ich weiß nicht, ob in der engeren Definition Amoklauf als erweiterter Suizid gedacht wird, aber es ist doch die letzte, verzweifelte Revolte der Seele, die sich eine Bedeutung in die als bedeutungslos empfundene Existenz schießen will; selbst im Moment der größten Anspannung, als seine gesamte Existenz auf dem Spiel steht, bezeichnet sich der Amokschütze im Stream immer wieder als Loser – und sieht sich damit mit den weltweit zugeschalteten Losern emotional verbunden.
Natürlich muss die Gesellschaft vor solchen Leuten geschützt werden. Aber das kann doch nicht alles sein! Wenn wir nur ansatzweise eine empathische Gesellschaft sein wollen, dann kann die Empathie-Grenze nicht einfach Mitte/Links verlaufen. Es sei denn, wir legen gesteigerten Wert darauf, uns unsere liebsten Todfeinde zu züchten. Da gibt es eine Gruppe innerhalb unserer Gesellschaft, deren Wahrscheinlichkeit, schon vor dem Rentenalter zu sterben, 8 x höher ist als von Vergleichsgruppen. Was machen wir mit dieser Gruppe? Ist sie uns egal, weil wir sie einfach nur Scheiße finden? Um dann, wenn wieder einer von ihnen sich von seiner Bildschirmverelendung löst und durchdreht, in die allgemeinen Betroffenheitsrituale zu verfallen und zu hoffen, dass die nächste Bombe nicht neben uns platzt? Akzeptieren wir, dass sich die Stammwählerschaft der AfD, früher vielleicht der Linken, daraus zusammensetzt und beschimpfen wir sie dementsprechend routiniert?
Oder erkennen wir an, dass sich dort eine gesellschaftliche Gruppe in großem emotionalen Elend konstituiert, die, wenn sie weiter an den Rand gedrängt wird, ein geradezu unerschöpfliche Amok-Ressource bildet? Der Trigger kann Antisemitismus und Faschismus sein – aber manchmal reicht dann einfach auch ein Montag.
We’ve all been raised on television to believe that one day we’d all be millionaires, and movie gods, and rock stars. But we won’t. And we’re slowly learning that fact. And we’re very, very pissed off…
Tyler Durden
Dein großartiger Text passt doch auch zum paranoiden, psychopathischen Massenmörder aus Hanau (19.02.2020).
In meinen Augen war dieses Verbrechen keine „echte“ neonazistische Untat, also nicht politisch motiviert,
sondern ein erweiterter Suizid mit rassistisch motivierter Hassmörderei gegen leicht identifizierbare und auffindbare Randgruppen.
Auffallend war, dass der Täter auch gleich seine Mutter mit umbrachte.