Der „Lotus im Kaisergarten“ war ein großes, schmuckloses Hallenrestaurant in der Kantstraße.

Im Lotus traf man sich nicht zum Essen. Man traf sich hier, wenn es diskrete Dinge zu besprechen gab.

Der „Lotus im Kaisergarten“ war auch ein wunderbares Beispiel für Chinesischen Humor: kein Lotus, kein Kaiser, kein Garten.

Es war 13 Uhr und der Laden war noch leer.

Ich hatte eine diskrete Verabredung mit Susanna Northy, der MegaBrand Business-Direktorin für die Region Zentraleuropa, deren Berliner Büro ich als Kreativ-Chef leitete.

Gestern hatte ich eine Mail bekommen:

Bin morgen in Berlin. We have to talk. 1pm Lunch `Lotus im Kaisergarten´ Su

Der Kellner am Eingang fragte: „Haben reserviert?“

„Werden erwartet.“

Ich zeigte nach hinten.

Su saß an dem großen, runden Tisch in der Ecke. Sie sah gut aus – groß und schlank, klares Gesicht, die schwarzen Haare straff zu einem Pferdeschwanz gebunden; schöne Titten, die sie wie eine Auszeichnung trug. Waren bestimmt teuer gewesen. Ich hatte vor Jahren mal überlegt, was mit ihr anzufangen. Es gab ein paar Momente in Cannes, an der Martinez Bar, da wäre mehr gegangen.

Es ging dann doch nicht, aber manchmal brizelte es noch.

Su hatte die Beine mit den schwarzen Pumps in den Raum gestreckt, damit ich sie sehen konnte. Sie hatte eine lange Beraterkarriere hinter sich, bevor sie ins Management von MegaBrand berufen wurde – als einzige Frau!

Das bedeutete was.

Su war ein wirklicher Profi. Sie vergaß nie einen Namen, war immer vorbereitet. Menschen waren ihr Geschäft. In ihrer XXL Hermés Birkin-Bag auf dem Stuhl versteckte sie ihre Sneakers. Die zog sie nur im Flugzeug an.

Insider-Wissen.

Susanna gab mir die Hand, hielt mir zuerst die rechte, dann die linke Wange hin.

„How are you?“

„How are you?

Ich setzte mich, legte mein Telefon neben das Platzdeckchen auf den Tisch, um klarzumache, dass jederzeit ein wichtiger Anruf zu erwarten war.

Ich wusste, dass würde jetzt eine Weile dauern – small talk und socializing, die hohe Form der Konversation: Der Flug war pünktlich, das Geschäft schwierig, das Wetter war das Wetter; Boje, unser Controller, hatte ihr gestern Abend telefonisch von der Abwicklung der Produktionsabteilung erzählt, die ich exekutiert hatte.

Betriebsbedingte Kündigung, Auflösung der Unternehmensbereich. Das war juristisch Hieb- und Stichfest.

Well done!

Ich nickte gelassen.

Su hatte Dim Sum für zwei bestellt.

Sie trank grünen Tee.

Ich trank Reiswein.

Die Dim Sum kamen.

Rochen wie Bioabfall, was als authentisch galt. Ich biss pflichtbewusst in was Weiches, Wabbeliges, das seine Herkunft nicht verriet und hielt mich sonst zurück.

Su schmeckte es.

Endlich legte Susanna die Stäbchen zur Seite. Sie tupfte sich mit der Linken die Lippen ab, legte mir die Rechte auf den Arm.

Ich spürte, wie Vorfreude in mit aufstieg.

„Du hast einen großartigen Job gemacht, Darling. Ich war so froh, als du MegaBrand übernommen hast, Henry war es auch.“

Henry war Sir Mayr, der CEO und Mehrheitsaktionär von MegaBrand.

„Es war nicht mehr als ein Versuch hier in Berlin – bis du kamst. Du hast was draus gemacht!“

Ich kannte die Geschichte. Ehrlich gesagt, kannten sie in London nur den offiziellen Teil. Ich war seit 14 Jahren Kreativdirektor, Chief Creative Officer, der Berliner MegaBrand Tochter. Ich war kompetent, verantwortlich, geschieden, hatte ein Adressbuch voll mit wichtigen Telefonnummer und in meiner Karriere jede Menge Kreativpreise gewonnen – den Leipziger Spatz, die Goldene Trommel, dreimal hintereinander den Mannheimer Lautsprecher in Bronze.

Natürlich steckte noch mehr dahinter: persönlicher Einsatz, Leidenschaft, Loyalität!

Vor einem halben Jahr war Kai Oetting, Marketingvorstand bei TeleMobil und mein Freund aus alten Rave-Tagen, in den Ruhestand gegangen. So schnell vergeht die Zeit. TeleMobil war der dickste Kunde hier am Standort. Würde er nicht ewig bleiben.

Seit vierzehn Monaten war die Stelle des Weltkreativchefs in der Londoner Zentrale vakant – seitdem Robert Mandelbaum angefangen hatte, Spielfilme zu drehen.

Die Gefahr bestand bei mir nicht.

Ich hatte schon vor einer Weile daran gedacht, mir in London eine Wohnung zu kaufen. Camden gefiel mir. Schöne Cafés, schöne Mädchen aus aller Herren Länder. Die Preise in London kannten seit Jahren nur eine Richtung – aufwärts. Aber vielleicht hatte ich ja Glück und erwischte die Brexit-Delle.

Glück gehört immer dazu.

Ich war die Idealbesetzung für den Job als WCO, World Creative Officer.

Während ich in Gedanken meine Zukunft plante, änderte sich plötzlich Sus Ton.

„Die Marketing-Umsätze wandern ins Digitale, statt Fernsehen gibt es YouTube, Facebook, Twitter, Instagram und jeden Tag noch etwas Neues. Muss ich dir nicht erklären. Du bist ja einer von uns, du verstehst das: Die Branche brauchte jungen Leuten, die mit der Playstation aufgewachsen sind und das digitale im Blut hatten. Digitale Natives; ziehen das Schwert und habt keine Angst vor Response!“ Susanna lachte. „Da sind klassische Zwölfender wie wir nicht mehr gefragt. Darauf müssen wir reagieren. Das verstehst du doch, isn’t it?“

„Wie – wir müssen reagieren?“

„Ich muss reagieren.“

For sure, my dear.

Ich nickte.

Die Laudatio hatte eine unangenehme Wendung genommen. Wenn der König vom Sparen spricht, stehen den Bauern harte Zeiten bevor; wollten sie mich etwa gar nicht in London?

Wollte sie, dass ich das Berliner Büro mehr auf Digital trimmte?

Das konnte nicht sein. Ich meine, dieser ganze Digitalscheiß, das war was für … ich beschloss, nicht länger zu warten, sondern die kühne Attacke zu wagen; zu zeigen, wie unangepasst, wie disruptiv ich sein konnte.

„Ja“ sagte ich.

„Bitte?“

„Ich nehme die Stelle als World Creative Officer an.“

What?

Su schaute irritiert.

„Naja.“ Ich wand mich auf meinem Stuhl. „Ich dachte du bist gekommen, um mich nach London zu holen?“

Susanna Northy stöhnte auf und ihre Augen füllten sich mit Trauer.

I`m so sorry, darling. Tut mir wirklich leid. Ich bin gekommen um dir mitzuteilen, dass wir uns leider von dir trennen müssen. I`m so sorry.

„Bitte?“

Ich glaubte mich verhört zu haben.

Als ich in Sus Augen schaute wusste ich, dass es vorbei war. Ich kannte diesen Blick. Jetzt sah ich ihn von der anderen Seite – der Blick eines Fremden.

Tut mir leid, ich kenne sie nicht, da können wir leider überhaupt nichts machen, die Tür ist zu, der Käs` gegessen!

Ich lächelte ein Automatenlächeln, während die Festplatte in meinem Kopf gerade frei drehte.

„Warum? Habe ich mir was zu Schulden kommen lassen?“

„Oh nein, my dear, hast du nicht.“

Su strich sich die Haare aus dem Gesicht.

„Kai Oettinger war dein Freund, all die Jahre war das Business sicher. Jetzt ist Kai weg, im Ruhestand, und Carla Wasabi-Maus, die neue Kommunikationschefin bei TeleMobil, will ein neues Team, einen neuen Stil – hat sie mir geschrieben. Structure follows business – du hattest eine gute Zeit, aber es kann nicht ewig gehen. Wir brauchen frische Jäger.“

„Aber …“

Ich versuchte zu intervenieren.

Su beugte sich vor und griff sich mein Nokia und hielt es mit zwei Fingern hoch.

„Instagram, die angesagten Seiten auf Tumblr, was ist der heiße Scheiß in deiner Time Line? Welches sind deine fünf aktuellen Killer-Apps?“

Ich lehnte mich zurück.

Kam Susanna Northy sich nicht selbst lächerlich vor? Ab einem gewissen Alter kannst du so was wie Killer App nicht mehr sagen. Es sei denn, du bist in der Werbung.

„Nichts von allem,“ sagte ich und spürte Trotz in mir aufsteigen. „Das ist ein Telefon. Damit telefoniere ich und verschicke ab und zu SMS.“

„Niemand hat mehr ein Nokia, niemand verschickt mehr SMS. Alle haben WhatsApp.“

Ich wusste, was sie tat. Sie trieb mich quer durch die Arena, den Finger fest auf meinem wunden Punkt gedrückt. Sie wollte mich vor mir lächerlich machen. Sie wollte, dass ich ihr Recht gab. Und sie hatte Recht – von ihrem Standpunkt aus gesehen.

Ich war kein Teil der Digitalen Welt. Ich wollte kein Teil der communication industry sein. Das war alles Mumpitz. Ich war damals, Ende der Neunziger, beim Aufbruch in das digitale Zeitalter dabei gewesen. Damals ging es um nicht weniger, als um eine neue, vernetzte Welt. Das Ergebnis: Anonymer Hass und Katzenbilder.

Su machte weiter.

„Welche YouTube Filme inspirieren dich gerade, welche Kanäle hast du abonniert?“

Jetzt war es auch schon egal.

„YouTube? Nee, bei mir heißt das YouPorn.“

Ich lachte; har, har, har.

„Und was die Killer Apps angeht – digital Detox. Das ist der heiße Scheiß.“

Su stieg nicht auf den Witz ein. War ja auch keiner. Sie ließ nicht locker.

„Welches Neugeschäft lässt dich gerade nicht mehr los? Welchen neuen Kunden willst du unbedingt?“

Das wurde jetzt eine ganz ordentliche Abreibung.

Ich wusste, ich hätte mich wehren, oder mindestens vor Ideen sprudeln müssen, um meine Unverzichtbarkeit zu demonstrieren.

Für diese Art von heroischen Rückzugsgefechten war ich zu müde. Das Werbegeschäft bestand, wie alle Geschäfte, aus einer endlosen Kette von Wiederholungen; am Anfang wurde gebalzt, wurden auf dem Endorphin der Möglichkeiten tolle Ideen vorgestellt. Dann wurde über den Preis verhandelt und am Ende wurde der Etat zusammengestrichen und gemacht, was der Vertrieb wollte. So war es.

Ich schüttelte den Kopf.

Ich brauchte den Job schon lange nicht mehr.

Ich brauchte das Geld.

„Klar, ihr feuert mich.“

Ich räusperte mich, schluckte die heiß aufschießende Existenzangst runter, um nicht aufs Klo rennen zu müssen.

Ehe ich mich vorsehen konnte, begann ich zu betteln.

„Habt ihr vielleicht irgendwo noch einen anderen Job, so was mit einer klassischen Kampagne, Fernsehspots, Shooting in Kapstadt? Ich meine … “

„Oh, du machst Spaß mit mir.“ Susanna tätschelte meine Linke. „Schön, dass du es so nimmst.“

„Kennst mich doch.“ Ich nickte. „Zum Schluss lachen sich alle tot.“ Pause. „Gibt es noch Verhandlungs-spielraum?“ fragte ich.

„An was denkst du?“

Ich dachte an mehr Geld.

Ich hatte über zwanzig Jahre ordentlich verdient. Aber immer, wenn ich mich umdrehte, war alles Geld weg. Haus kaufen, Kredite abbezahlen, Klamotten kaufen, Schuhe kaufen, noch mehr Klamotten, Essen gehen, Urlaub fahren, Wochenendtrip nach Rom, nach Paris, nach Barcelona, Kosmetikerin, Fitnessstudio, Wochenendtrip nach Stockholm, neue Sneakers, neue Uhr, neuer Rechner, noch mehr Klamotten, Personal Trainer, Kind, Frau, noch mehr von allem, besser Essen gehen, Cluburlaub in Kenia, Hausreparatur, Schuhe. Scheidung, Unterhalt, Studiengebühr, Krankenversicherung, endlos.

Keine Zeit, Rücklagen zu bilden.

Für Vorsorge war später Zeit.

Später war jetzt: Wenn du bis fünfzig deine Schäfchen nicht im Trockenen hast, geht es nicht mehr um Inhalte. Die Zahl der Altersarmen in Deutschland wuchs ständig. >Immer mehr Alte leben von Harz IV< hatte BILD letztens groß getitelt. Senioren schlugen sich vorm Arbeitsamt um Minijobs. Die meisten von denen waren körperlich besser in Schuss als ich. Also pfiff ich auf den Stolz.

Ich sagte Su, woran ich dachte.

Sie lächelte verstehend.

Dann schüttelte sie den Kopf.

Jetzt musste ich doch aufs Klo. Schnell.

Scheiß empfindlicher Magen.

Ich kotze mir über der Porzellanschüssel die Seele aus dem Leib; Galle, bitter.

Als ich in den Spiegel überm Waschbecken schaute, glotze mich ein altes, schwammiges Monster mit rot unterlaufenen Augen an: ich.

Dass, was ich geworden war.

Das, was ich nie werden wollte.

Ich wischte mir den Mund ab; schluckte.

Irgendwann ist Schluss.

Sie glaubte, ich konnte es nicht mehr?

Ich konnte es!

Als ich zurück zum Tisch kam, lag ein Schreiben mit der Kündigung auf dem Tisch. Das MegaBrand Logo dem Bogen war frisch überarbeitet.

„Wer hat denn das neue Logo gemacht?“

Ich zog meinen Füller aus der Tasche, schraubte ihn auf.

„Alberto, unser neuer World Creative Officer.“

“Ah.”

Ich kannte Alberto. Er war circa 25 Jahre jünger. Ich setzte den Füller an und malte sorgfältig einen großen haarigen Pimmel auf das weiße Papier und schob es dann mit einem Lächeln zu Susanna Northy rüber.

Es war mir ein Vergnügen zu sehen, wie ihr Lächeln gefror, wie erst Unverständnis und dann kalter Zorn in ihre blassen blauen Augen stieg.

Sie war Britin, eine Tochter des Empires.

Sie war so damit beschäftigt, die Contenance zu bewahren, dass sie meine Hand nicht sah, die nach den roten, lackierten Essstäbchen griff.

Ich spürte das kühle glatte Holz in meiner Hand. Es fühlte sich gut an. Ich kratzte mich mit den Stäbchen im Nacken.

Ich weiß, dass macht man nicht in einem chinesischen Restaurant.

Was ich gleich Tun würde, macht man noch viel weniger:

Ich hob die Hand, die Faust der Vergeltung, die fünf geballten Finger des Kommunikationsproletariers, die das rote Holz des Zorn fest umschlossen hielten, holte kurz Schwung und dann rammte ich Su die Lackstäbchen bis zum Anschlag meiner Faust ins rechte Auge; der Augapfel platzte, Glasflüssigkeit spritze auf den Tisch, die Knochen barsten, die Augenhöhle und Hirnschale trennten, als ich die Essstäbchen tiefer durch ihren Schädel trieb.

Die Contenance war dahin.

Der Mund blieb offenstehen.

Die blassen Augen füllten sich mit Farbe.

„Game changer!“ sagte ich. „Game changer!“

Ich beugte mich nach vorn über den Tisch, den linken Arm ausstrecken, packte ihren Kopf am Pferdeschwanze und knallte ihren Schädel auf die Tischplatte:

„Ende des linearen Erzählens!“ erklärte ich.

Ich war vielleicht etwas spät mit der Einsicht, aber besser spät als nie!

„Wir gehen viral!“ brüllte ich. „3 Millionen Klicks auf Youtube.“

Was für ein Anblick, als sich das Blut aus ihrer Nase, die Glasflüssigkeit ihres Auges und graurotes Sickerblut aus ihrem Schädel mit der Chilisoße mischten!

„Wir trenden, Baby! Baby, wir trenden!“

Ich hatte mit Zuspruch gerechnet.

Es kam keiner.

Stattdessen erschien der Kellner auf leisen Sohlen, besah sich den Tisch, lächelte.

„Fettig?“

„Danke!“ Sagte ich. „Können abräumen.“

Es ist erstaunlich wie wenig Essen man braucht, um richtig satt zu sein.

-Ende-

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