III.

Es gibt unendliche Formen und Arten von Meditation. Ich kenne nur einen Bruchteil davon und auch über den weiß ich nicht viel. Aber allen ist gemein, dass sie Techniken sind wie Hürdenlauf oder Diskuswerfen. Wenn du die Technik nicht kennst und nicht verinnerlichst, wenn du sie nicht immer wieder übst, bleibt es nur bei einem Versuch. Du bleibst jemand, der so tut, als würde er einen Diskus werfen; dir gelingt vielleicht die erste Hürde, aber an der zweiten wirst du straucheln. Auch beim Meditieren setzt du dich nicht einfach hin und kannst es. Vielleicht trägt dich dein Adrenalin eine Weile. Selbstfaszination kann am Anfang eine große Hilfe sein. Die Arbeit fängt an, wenn die Erregung nachlässt.

Die Technik, mit der ich meditiere, hat der Buddha ausführlich in der großen Lehrrede über die vollkommene Errichtung der Achtsamkeit dargelegt. Im Pali Kanon heißt sie Mahasatipatthana Sutta. Die Worte des Buddha, die ich zitiere, stammen aus der Übersetzung des Vipassana Research Institute. Ich möchte mich an dieser Stelle aus ganzem Herzen bei Satya Narayan Goenka bedanken, meinem 2013 gestorbenen Meister. Er hat mir eine Technik vermittelt, deren Nutzen und Weisheit mich mit tiefer Dankbarkeit erfüllt. Anicca. Anicca. Anicca.

Es war 2001. In New York stürzten die Türme, in Berlin platzte die Dotcom-Blase und die glücklichen Neunziger Jahre waren mit einem Schlag vorbei. Bis dahin war es für mich persönlich fast zehn Jahre lang nur aufwärts gegangen – ich war mit einem Pappkoffer voller Gedichte 1984 aus Karl-Marx-Stadt nach Berlin/W. gekommen und jetzt war ich Teil der schönen neuen Welt. Apple war mein Leitstern. Damals trug das Apple-Logo noch alle Farben des Regenbogens; es war noch kein Lifestyle-Produkt in Perlmutweiß und Rosègold. Es war auch noch nicht das Symbol für einen der wertvollsten, börsennotierten Konzerne der Welt mit einer krankhaften Leidenschaft, Steuern zu sparen. Es war ein Stück Utopie.

Die Mauer war so überraschend gefallen, dass alle alten Pläne obsolet waren und es für ein paar Jahre das reine Jetzt gab – alles war möglich. Ich hatte Anfang der Neunziger eine Werbeagentur gegründet, im zweiten Drittel der Neunziger meine erste Online-Agentur. Das Geschäft wuchs, das zutrauen in die Welt wuchs, die Geschichte, als eine Kette von Konflikten, schien beendet. Ich lernte meine spätere Frau kennen und wir bekamen 2000 unsere erste Tochter. Sie war ein Techno-Kind und Kinder wie sie besiedelten die leeren Spielplätze am Kollwitzplatz und machten sie wieder lebendig. Die Welt war ein großartiger Ort und Berlin eine aufregende Spielwiese. Mit dem Platzen der Dotcom-Blase als Folge der Anschläge, der daraus resultierenden Wirtschafts- und Bankenkrise, wurde diese Welt total durchgeschüttelt. In der Agentur gingen unsere Kunden reihenweise Pleite, wir hatten gewaltige Forderungsausfälle, mussten Leute entlassen, kämpften um die Existenz. Familie war plötzlich nicht mehr nur Freude, sondern existenzielle Verantwortung; der Schlaf wurde schlechter, mein Ton gereizter.

Es ist einfach, in guten Zeiten gut zu sein.

In der Krise lernst du viel über dich.

Als mir das Wasser bis zum Hals stand, ich ohne Pause mit Banken, Kunden und Mitarbeitern verhandelte, merkte ich, dass ich gar nicht mehr in der Lage war, meine innere Festplatte runter zu fahren. Das war die Stelle, an der der The Verve Song ins Spiel kam: Now the drugs don´t work, they just make you worse. So dick konntest du keine Tüte bauen, um mich noch runter zu kriegen. Mein Bruder half mir. Er erzählte mir von einem Schweigeritual am Fuße der Schwäbischen Alb und meine Gefährtin sagte: Wenn es dir hilft, dann fahr!

Spirituelle Arbeit war mir nicht fremd. Ich hatte, neben meiner Arbeit, immer einen Fuß in der zweiten Welt. Es gab in meinem Herzen immer eine tiefe Sehnsucht nach einer unmittelbaren Verbindung zu einem tieferen Sein. Mein Lehrer Frank Natale hatte mit den Auftrag mit auf den Weg gegeben: Werd´ ein Meister in zwei Welten! Ich habe Ramtha in Yelm besucht und in den Berliner Clubs jede Menge Grenzerfahrungen gemacht. Zehn Tage Schweigen – ich hatte Lust darauf und gleichzeitig das Gefühl, dass mir etwas Neues bevorstand. Ich war aufgeregt.

     IV.

Das Center, indem der Kurs stattfand, befand sich am Fuß der Schwäbischen Alb. An der Tür klebte ein Smiley, darüber stand: Be Happy. Sah für mich aus, wie die meisten Clubtüren in den letzten Jahren ausgesehen hatten. Der freundliche Mensch am Empfang sagte mir, dass ich, sobald der Kurs beginnen würde, das Kursgelände nicht mehr verlassen dürfte.

„Es geht doch im Schweigen?“ fragte ich nach.

„Auch“, war die Antwort.

Ich ging noch eine Runde raus, hoch in den Wald. Das Haus lag am Ende einer kleinen Straße, war in den Hang gebaut und hatte seine besten Zeiten schon hinter sich. Ich hatte noch einen Joint dabei. Als der alle war, ging ich nach drinnen und der Kurs begann.

Nein, es war nicht nur ein Schweigekurs. Es war ein Vipassana Kurs. Und die Arbeit begann am nächsten Tag mit dem Gong 4 Uhr in der Früh mit Anapana-Meditation. Um den Geist zu beruhigen und sich für die tiefere Einsicht vorzubereiten, konzentrierst du dich vollständig auf deinen Atem. Du weißt, wann du einatmest. Du weißt, wann du ausatmest. Du weißt, wenn dein Atem tief ist, du weißt, wann dein Atem flach ist. Du manipulierst deinen Atem nicht. Du versuchst nicht, etwas Besonderes damit zu machen. Du schaust nur zu. Und wenn du deinen Atem verlierst, abdriftest, ins Träumen gerätst, dann komm einfach zu deinem Atem zurück, sobald du es bemerkst. Sei nicht sauer, verurteile dich nicht deshalb. Verlieren, wiederfinden, wieder verlieren, bis es nicht mehr zu verlieren gibt.

Ich schaute zu. Ich schaute mir beim Atmen zu. Ich verlor meinen Atem. Ich fand ihn wieder. Ich sah, wie mein Atem gleichmäßiger wurde und wie mein Geist damit ruhiger wurde.

„Genau wie ein geschickter Drechsler oder sein Lehrling während eines langen Drechselzuges richtig versteht: `Ich mache einen langen Drechselzug,´ oder während eines kurzen Drechselzugs richtig versteht: Ich mache einen kurzen Drechselzug,´ genauso versteht ein Mönch, der einen tiefen Atemzug macht, richtig: `Ich mache einen tiefen Atemzug.´“ sagt der Buddha. Er benutzt ein Handwerk als Metapher. Es geht um Technik und sorgfältige Ausübung. Wir wären alle gern Möbeldesigner. Aber wir sind nur dann wirklich gute Möbeldesigner, wenn wir vorher gute Tischler sind. Und vielleicht, ganz vielleicht nur, wären wir als gute Tischler glücklicher.

Einatmen: ich atme ein.

Ausatmen: ich atme aus.

Drei Tage übten wir jeden Tag 10 Stunden. Der Atem ist ein wunderbarer Meditationsgegenstand. Er ist immer da. Er hält Geist und Körper zusammen. Wenn du ihn verlierst, weißt du, wo du ihn wiederfindest: In dir. Ich spürte, wie mein Geist schärfer wurde. Am Rande meines Bewusstseins nahm ich meinen Körper war und im Zentrum meiner Aufmerksamkeit begann der kleine Bereich zwischen meinen Nasenlöchern und der Oberlippe zu kribbeln und ein Eigenleben zu entwickeln, wie die Stadt auf dem Staubkorn in dem Kinderfilm „Horton hört ein Hu!“

     V.

Der Englische Schriftsteller Joyce Cary hat ein beeindruckendes Glaubensbekenntnis, sein Credo, geschrieben: Die Wahrheit aber ist, dass das Leben hart und gefährlich ist. Wer nach seinem Glück sucht, wird es nicht finden. Wer schwach ist, wird leiden. Wer nach Liebe verlangt, wird enttäuscht werden. Wer gierig ist, wird nicht gefüttert. Wer nach Frieden sucht, findet Streit. Wahrheit ist nur für den Mutigen; Freude ist nur für den, der ohne Angst ist vorm Alleinsein. Leben ist nur für den, der sich nicht fürchtet zu sterben.

Natürlich können wir auch mit dem Fuß stampfen und darauf bestehen, glücklich zu sein. Aber die wachsenden Zahlen der Medikamenten- und Drogenabhängigen, Burnouter, Flüchtenden, nach Liebe Suchenden, nach immer mehr Gierenden, sprechen eine andere Sprache. Google spuckt in 0,51 sec 91.100,000 Einträge zum Thema Glück aus. Das Leben aber bleibt Leiden; was du willst, bekommst du nicht, was du hast, willst du nicht. Das ist das Drama unsere Existenz in Kurzform. Damit kannst du klarkommen. An der Oberfläche gelingt uns das auch. Aber leider sind wir keine eindimensionalen Wesen. Wir reichen weit in Zeit und Raum und unser Geist ist so mächtig wie zerstörerisch. Wir verbuddeln unsere Dramen in der Tiefe unseres Seins, wo sie sich verkapseln, Knoten bilden, auf ihre Zeit warten.

Der Buddha lehrt: „Der einzige und alleinige Weg, Mönche, zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Wehklage, zur Aufhebung von Schmerz und Trübsal, um auf dem Weg der Wahrheit zu wandeln und um nibbana zu erfahren, ist: das vierfache Errichten der Aufmerksamkeit.“

Die vier Felder der Aufmerksamkeit sind:
in tiefem Verständnis der Unbeständigkeit den Körper im Körper beobachten;
in tiefem Verständnis der Unbeständigkeit die Empfindungen in den Empfindungen beobachten;
in tiefem Verständnis der Unbeständigkeit den Geist im Geist beobachten;
in tiefem Verständnis der Unbeständigkeit die Geistesinhalte in den Geistesinhalten beobachten;

wobei er sowohl Begierde als auch Abneigung gegenüber der Welt (aus Geist und Materie) überwunden hat.

Das ist, mal ganz in Kurzform, die Übung, um die es bei der Vipassana Meditation geht. Wobei das mit der Überwindung von Begierde und Abneigung bei Anfängern noch optional ist. Es geht um Beobachten – auch der von Begierde und Abneigung. Zu wissen, wann Begierde da ist und wann Abneigung. Es geht darum, ein tiefes Verständnis für das Wesen des zu beobachtenden Gegenstands zu entwickeln. Es geht darum, nichts mehr zu müssen. Es ist, um es wissenschaftlich zu beschreiben, eine Versuchsanordnung. Wir sind Objekt und Subjekt dieses Versuchsaufbaus zugleich. Und weil der Buddha weiß, dass wir am Anfang und am Ende nur dem Wissen trauen können, welches wir selbst erfahren haben, ist unser eigenen Körper der alleinige Gegenstand der Beobachtungen und der Erkenntnis; keine Welt voller Sang&Klang, keine Visionen, kein Verschmelzen mit …, sondern eine ganz mechanische Beobachtung der Empfinden unseres Körpers, während wir still Sitzen und uns auf das konzentrieren, was auf und in unseren Körper passiert. Wobei das stille Sitzen die Bedingung ist, um die Arbeit nach innen verrichten zu können. Wer zappelt, hat sich der Empfindung schon hingegeben, kann nicht beobachten. Der Buddha sagt: „Wie nun, Mönche, verweilt ein Mönch bei der Beobachtung der Empfindungen in den Empfindungen? Hier, Mönche, versteht er richtig, während er eine angenehme Empfindung verspürt: Ich verspüre eine angenehme Empfindung. Während er eine unangenehme Empfindung verspürt, versteht er richtig: Ich verspüre eine unangenehme Empfindung. Während er eine weder angenehme noch unangenehme Empfindung verspürt, versteht er richtig: Ich verspüre eine weder angenehme noch unangenehme Empfindung. … So verweilt er bei der Beobachtung der Empfindungen in den Empfindungen, entweder innen oder außen oder im Innen und Außen zugleich. Und so verweilt er, das Phänomen des Entstehens in den Empfindungen beobachtend, so verweilt er das Phänomen des Vergehens in den Empfindungen beobachtend, so verweilt er, das Phänomen des gleichzeitigen Entstehens und Vergehens in den Empfindungen beobachtend. Damit wird seine Aufmerksamkeit gefestigt: Das ist Empfindung. Und so entwickelt er seine Aufmerksamkeit in solchem Maße, dass nur noch reines Verständnis mit reiner Aufmerksamkeit bestehen.…“

Warum sind die Empfindungen so wichtig? Sie sind ein wesentlicher Teil in der Kette des bedingten Entstehens: Bedingt durch die sechs Sinne entsteht Kontakt.
Bedingt durch den Kontakt entstehen Empfindungen.
Bedingt durch Empfindungen entstehen Verlangen und Abneigung.

Unsere sechs Sinne sind Hören, Riechen, Schmecken, Sehen, Tasten und Geistesempfindungen. Das ist eine der großartigen Entdeckungen des Buddha: Unser Geist ist in der Lage, eigene Empfindungen zu generieren. Selbst wenn wir alle Sinnestore verschließen, werden wir den Empfindungen nicht entkommen. Das ist die wunderbare, große Erkenntnis, dass wir alles mitnehmen, wenn wir es verleugnen. Zurück zur Kette des bedingten Entstehens: Ein Ton fällt durch unser Ohr in unser Bewusstsein und erzeugt eine Empfindung. Die Empfindung löst sofort eine Reaktion aus

– wir hören den Ton und er gefällt uns. Er erinnert uns an einen Ton aus der Kindheit, der mit schönen Erinnerungen verbunden ist. Wir wollen mehr von diesem Ton.

– wir hören den Ton und er nervt uns. Er erinnert uns an einen Ton aus der Kindheit, der mit fiesen Erinnerungen verbunden ist. Wir wollen, dass dieser Ton verschwindet.

Das verrückte: In beiden Fällen hat unsere Empfindung gar nicht mit dem gegenwärtigen Ton zu tun. Wir reagieren mit Mustern aus der Vergangenheit.

Es ist das Einfache, was so unglaublich ist; es ist das Einfache, was kaum auszuhalten ist. Unser Geist ist so ein gewaltiges Instrument, aber am Ende ist er auch nur ein Werkzeug, welches Spuren hinterlässt, wenn wir es benutzen. Diese Spuren sind Empfindungen: Vedana-samosarana sabbe dhamma. Alles, was im Geist passiert, geht mit Empfindungen (im Körper) einher. Und da wir Geist-Körper-Wesen sind, evolutionär vielleicht auch Körper-Geist-Wesen, gilt das auch umgekehrt: Alles was im Körper passiert, hat Ursachen oder Entsprechungen im Geist.

Deswegen scheint mir die Beobachtung der Empfindungen, ihr Entstehen, ihr Vergehen, ihr Entstehen und Vergehen, der zentrale Weg zur Erkenntnis über das Wesen der Realität – die ganze Aufmerksamkeit ist auf dich selbst gerichtet; keine Möglichkeit, dir zu entkommen, dich zu manipulieren; sich mit Hilfe eines Außen vor dem Innen zu drücken. Kein Mantra, kein Gebet, keine Melodie, die dich über die Tiefen und Untiefen trägt. Natürlich versucht der Geist zu entkommen. Er flüchtet sich ins Träumen, versucht ins Nichtpräsentsein zu entkommen, lockt mit Visionen und Phantasien. Aber die Geist-Körper-Dualität lässt sich nicht austricksen. Die Aufmerksamkeit kehrt wieder zurück, wenn der Beobachter wieder die Empfindungen sucht; du selbst wirst dir der Spiel deiner Unbeständigkeit; in dem Moment löst du dich auf und entstehst neu. Die physische Welt als Illusion – es ist kein Modell oder keine Idee mehr. Du erfährst sie in der physischen Realität deines Körpers: Jetzt

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