Ich habe die Nacht nach der Zeremonie in der Maloka geschlafen. Es war eine gute Nacht. Ich habe die Lieder der Pflanzen gehört. Ich habe sie verstanden. Es war das Schönste, Anrührendste, Zärtlichste, was ich je gehört habe. Jede Frequenz hat was in mir geheilt.
Der Abend begann mit einer klaren Intention – Königin, mach mir das Herz auf! Ich will nicht, dass es klein und ausgetrocknet in meiner Brust rumhängt. Ich will nicht länger mit Dörrobst in der Brust leben!
Ich war viel ruhiger und entspannter als am Abend vorher. Die Energie der ganzen Gruppe war konzentrierter. Ich bin dankbar für Kyrsten, der Australierin zu meiner Linken und Adriana, das wuschelige Mädchen, zu meiner Rechten. Kyrsten ist voller Anspannung, ich kann es spüren. Sie hat ihre Intentionen auf einen Zettel geschrieben, geht die Punkte durch. Ich möchte sie am liebsten in den Arm nehmen – mach es dir einfach! Ich will ein großes Herz. Ganz einfach ein großes Herz!
Ich trinke mein Glas Ayahuasca beherzt und mit klarer Haltung bis zum letzten Tropfen, gehen zurück auf meinen Platz, spüle mir den Mund, zünde mir eine Zigarette mit Mapacho an, dem schwarzen Regenwaldtabak. Mapacho reinige die Energie und hilft, mit der Ayahuasca Göttin zu kommunizieren. Ich bitte noch mal um ein offenes Herz und darum, dass sie zärtlich zu mir sein möge.
Als das Licht verlöscht, die Frösche einsetzen, bleibt es schwarz um mich. Bunte Punkte fangen an zu leuchten, umkreisen mich und nehmen mich mit – ich kenne sie, habe sie schon als Kind immer kurz vor dem Einschlafen getroffen, an der Schwelle zwischen Wachsein und Traum. Eine warme Wolke senkt sich über mich und umhüllt mich zärtlich. Danach bin ich weg, weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Ich spüre, wie tiefes Lachen in mir aufsteigt; ich liege kichernd auf meiner Matte.
Ich brauche eine Umarmung!
Hilfe! Ich brauche bitte sofort ganz dringend eine Umarmung!
Ich krieche über meine Matte zu meiner Taschenlampe und knipse das rote „Hilfe“ Licht an. Cora kommt nach ein paar Minuten, fragt, wie sie tun kann.
Umarme mich, sage ich, es tut mir so leid. Alles tut mir so leid! Entschuldige.
Ich kichere.
Cora kichert und umarmt mich. Alles ist wunderbar. Die Schamanen beginnen zu singen. Die Ikaros sind wie die Strahlen der Sonne. Ich bin eine Pflanze, die ihre Blühte hin zur Wärme streckt. Liebe.
…
Als ich am Morgen in der Maloka erwache, spüre ich die Ikaros noch immer in mir. Ich bin voller Liebe. Es tut mir so unendlich leid, was wir unserem Planeten antun. Ich möchte mich entschuldigen – bei der Göttin, bei unserer wunderschönen Welt, bei allen Menschen, die ich kenne: Entschuldigung für alle Missverständnisse, die Ausreden, die kleinen und großen Lügen, den Verrat, den falschen Stolz, das missbrauchte Vertrauen, das fehlende Vertrauen, die Blindheit, die Ignoranz, den Zweifel, das Misstrauen, die Eitelkeit, die Gier, die Naschhaftigkeit, die Zurückhaltung, die fehlende Liebe.
Glücklich und traurig zugleich verlasse ich die Maloka. Die Traurigkeit ist die Rückseite der Liebe, das weiß ich jetzt. Ich habe mich so lange vor meiner Traurigkeit versteckt. Traurigkeit hat keinen Platz in meinem Leben. Muss sie aber.
Der Dschungel empfängt mich mit Zwitschern und Summen, Regentropfen glänzen auf den Blättern, ein Kolibri trinkt Nektar aus einer großen roten Blühte. Ich treffe meine Mitreisenden auf dem Weg zum Frühstück; was für schöne Menschen.
Am Frühstückstisch teile ich meine Erfahrung mit Debbie, erzähle ihr von der Liebe, die ich erfahren habe und die unsere Welt zusammenhält. Ich entschuldige mich für meine Selbstbezogenheit, für jedes Vielleicht, wo ich ja oder nein hätte sagen sollen. Ich fühle mich so verantwortlich.
Debbie umarmt mich. Was in den nächsten Tagen immer auch mit dir passieren wird, sagt sie, wenn du vom Punkt der Liebe kommst, kannst du nicht verloren gehen.
Ich verstehe. Die Liebe ist immer da, ob wir sie sehen oder nicht. Ich habe schon wieder nasse Augen. Über dem Camp geht ein kleiner Schauer nieder; ich stelle mich in den Regen und genieße.
Später sitze ich auf der Bank am Teich und schaue in die Bäume. Dave, mein australischer Freund, setzt sie zu mir. Er erzählt mir, warum ihn seine Schwester zum Tempel gebracht hat – er hat versucht, sich umzubringen. Zu viele Drogen, zu viel Kälte in der Welt. Die Pistole hat versagt.
Ich umarme Dave; was für ein großer starker Kerl, wie viel Trauer in ihm. Ich spüre sie. Ich will alle umarmen.
Am Nachmittag beim Gruppen-Sharing in der Maloka, erzähle ich von meiner Erfahrung. Ich will nicht hinter dem Berg halten, will nichts verstecken, will gesehen werden und mein großes Herz in die Mitte des Kreises legen. Ich entschuldige mich bei allen für alles, spreche von der Liebe und der Trauer, die ich so lange zurückgehalten habe. Jeder von uns hat guter Gründe traurig zu sein; das Leben geht vorbei, Träume platzen, Erwartungen werden enttäuscht. Wir kommen vom Weg ab und trauen uns nicht, nach der Richtung zu fragen. Das passiert jedem von uns. Wir sind ein Teil von Allem und fühlen uns doch allein. Wir wollen unser Herz beschützen und schließen es deshalb ein. Der Schmerz ist genauso Leben. Es gibt keinen Grund, ihn nicht auch zu umarmen.
Ich sitze im Kreis, rede, heule und lache. Wie immer bei Ayahuasca: alles gleichzeitig.