1. Ankunft

Es war in der Zeit, in der ich eine große Nummer war. Jedenfalls dachte American Express, dass ich eine große Nummer sei. Ich hatte mein Gesicht in genügend Kameras gehalten. Ich war ein typischer Vertreter der neuen Ökonomie. Amex luden mich zur Centurion Card ein – der legendären Schwarzen Karte. Mit einer Schwarzen Amex kannst du dir eine Yacht oder ein Flugzeug kaufen – es gibt kein Limit nach oben. Außerdem gibt es einen 24h Service, der dir jeden Wunsch erfüllt. Der Einladung zur Karte lag ein Reiseprospekt bei.
„Ich will nach Mauritius“, sagte meine Frau und zeigte auf ein Bild.
„Klar, warum nicht?“
Ich rief den Concierge Service an. Dafür war er ja da.

Ein paar Tage später stand ich mit den Füßen im Indischen Ozean. Das Wasser war Badewannenwarm, Glasklar und weiter draußen, wo sich die Wellen brachen, Türkis. Das Baby auf meinem Arm brabbelte und machte große Augen.
„Ja, Schatz!“ Ich stupste sie mit der Wange an. „Wir sind da.“
Das Hotel, indem wir gerade angekommen waren, lag an einer weiten, leicht geschwungenen Lagune, im Rücken geschützt von einem schwarzen Berg, der wie ein riesiger Rottweiler über die Idylle und ganz Mauritius zu wachen schien. Überall blühten Hibiskus-Sträucher, Palmen schaukelten im Wind, schattige Laubengänge verbanden die einzelnen Villen des Hotels miteinander.
Der Golfplatz sollte einer der besten Plätze Afrikas sein. Das interessierte uns nicht. Wir waren hier wegen des Meeres, wegen des Babys, wegen uns und weil wir dem Ruf der Schwarzen Amex gefolgt waren.
Meine Frau stand neben dem Hotelboy mit den Kofferwagen.
„Kommt ihr?“
Kein Grund zur Hektik. Die 11 Stunden Flug, der damit notwendigerweise verbundene Streit, die Quengeleien des Babys waren wir weg gespült vom Geplätscher der Wellen.

Als ich, mit dem Baby auf dem Arm, endlich in unsere Suite kam, hatte der Boy, ein Südinder von Anfang Zwanzig, unsere Sachen bereits in die Schränke geräumt. Ich zuckte kurz zusammen. Auch wenn American Express das vielleicht dachte, ich lebe kein Leben, in dem Dienstboden zum Alltag gehören. Ich bin ein konservativer Anhänger der „Jeder ist für seinen Scheiß selbst verantwortlich“ – Philosophie. Aber ich war bereit, anderen Kulturen gegenüber offen zu sein. Außerdem hatten wir uns für dieses Hotel entschieden, weil es Entlastung von aller Alltäglichkeit versprach, Home of „den Wunsch von den Augen ablesen.“
Der Hotel-Boy hatte also mein ausgeblichenes, dünn gescheuertes Lieblingshemd auf einen dunklen Teakholz-Bügel gehängt. Dass mein altes Lieblingshemd so was noch erleben durfte! Unseren Familien-Buddha hatte er zusammen mit meinem Reisekristall und ein paar Hibiskus-Blüten zu einem Hausalter arrangiert. Als meine Frau schwanger wurde, hatten wir uns aller Unterstützung versichert, die wir bekommen konnten.
„Sie glauben an Buddha.“ Sagt der Boy. Es war keine Frage.
„Ich versuche seinem Weg zu folgen.“ Antwortete ich vorsichtig.
Das Baby lag auf dem Bett und winkte erwartungsfroh der Flasche zu, die ihre Mutter gerade mischte. Sie lächelte.
„Jeder Weg der zum Frieden führt ist ein guter Weg.“ Der Boy lächelte ebenfalls. „Buddha ist eine Inkarnation Shivas.“
„So sagen es die Hindus. Bist du Hindu?“
„Sie haben großes Glück, dass Sie noch heute angekommen sind.“ Erklärte er, statt meine Frage zu beantworten. „Heute ist der letzte Tag des Maha-Shivara-tree!“
Ich kannte das Wort. Ich hatte in einem alten Geo davon gelesen. Es war der Name eines Hindu-Festes, das jedes Jahr im Februar gefeiert wurde. Übersetzt hieß es „Die große Nacht Shivas.“ Sieben Tage feierten die Hindus die Möglichkeit, sich im Ganges alle Sünden vom Leib zu waschen.
„Das ist ein weiter Weg von hier zum Ganges.“ Warf ich ein.
„Die Götter sind mächtig.“ Unser Boy hielt die Handflächen gen Himmel. „Oben in den Bergen gibt es einen Kratersee. Er heißt Grand Bassin. Einem unserer Priester schenkte Shiva die Vision, dass sich sein Wasser zum Fest in das Wasser des Ganges verwandelt. So kann sich jeder Mensch auf Mauritius in seinem Wasser waschen.“
„Die Götter sind weise.“ Ich lachte.
Der Boy nickte. Sein Lächeln war frei von Ironie. „Das sind sie.“
„Kann da jeder hingehen?“ fragte meine Frau.
Das Baby hing glücklich an seiner Flasche.
„Jeder. Die Weisheit der Götter ist für alle.“
„Da solltest du hingehen.“ Sagte meine Frau.
Der Boy nickte. „Sie bringen das Wasser des Ganges ihrer Familie.“
„Bitte?“ fragte ich.
„Mein Mann liebt Rituale. Er geht ständig irgendwohin Leute umarmen, zusammen meditieren und so.“ Bestätigte meine Frau dem Boy und legte mir eine Hand auf den Arm: „Du wirst es genießen.“
„Ich bin müde.“ Sagte ich. „Ich will nichts machen. Ich will ankommen, mit euch rumhängen, schwimmen, frischen Tunfisch essen, kalten Weißwein trinken.“
„Da hochzugehen ist bestimmt die beste Art für dich, anzukommen.“
„Sie müssen eine Flasche mitnehmen.“ Sagte der Boy.
„Eine Flasche?“ Ich fand, dass unser Boy gerade ein Stück zuviel Engagement zeigte. „Wofür?“
„Für das Wasser.“
Natürlich.
„Gehst du?“ fragte meine Frau.
Ich hatte das Gefühl, dass sie mich schon wieder loswerden wollte.
„Nein.“
Ich war müde. Ich war mir nicht sicher, ob meine Seele schon angekommen war. Ich hatte Schiss. Ich war noch nicht mal richtig da und sollte mich schon mit den lokalen Göttern einlassen? Das war nicht wenig verlangt. Angst machte mich neugierig.
„Du kannst es dir ja noch überlegen.“ Meine Frau schenkte mir ein Lächeln.
Das Baby rülpste.
„Sie müssen eine Flasche mitnehmen. Sie müssen ihrer Familie das Wasser bringen. Es bringt Segen.“ Der Boy verbeugte sich. „Rufen Sie, wenn Sie etwas brauchen.“
„Passt du auf unser Baby auf?“ Fragte meine Frau. „Ich geh unter die Dusche.“
„Warum nicht ins Meer?“
„Noch nicht.“
Siehste, aber mich in die fremde Nacht schicken wollen, dachte ich. Sagte ich aber nicht. Wir waren im Urlaub. Ich legte mich zum Baby aufs Bett.
„Was meinst du?“ Wollte ich wissen. „Bist du scharf auf Bergwasser?“
„Pffft. Bla.“ Machte das Baby.

Das Restaurant war auf Pfählen in die Lagune gebaut. Die Lichter der Lampions und Kerzen spiegelte sich im Wasser. Das Schmatzen der Wellen mischte sich mit Gemurmel in Englisch, Französisch und Afrikaans, mit dem Geklapper der Bestecke und dem Klingen der Gläser. Es war wenig Deutsch zu hören. Es gab einen Kellner, der einem den Stuhl unter den Hintern schob, einen der die Teller vom Buffet zum Tisch trug und einen, der für die Getränke zuständig war. Und dann gab es noch die Heerscharen von Kellnern und Kellnerinnen, die einfach mal vorbeikamen, um dem Baby eine Blühte, eine Frucht oder ein Spielzeug zu bringen.
„Was für ein Glück!“ Meine Frau strahlte über einen Teller voller gebackener Muscheln. „Du warst schwimmen, du isst frischen Tunfisch. Und dann holst du auch noch das Shiva Wasser.“
„Hör auf.“ Sagte ich. „Ich beginne gerade mich zu entspannen, weich zu werden. Den Februar in Deutschland zu vergessen. Und du willst mich allein in die Nacht hinausjagen?“
„Ich will es nicht für mich.“ Sie fixierte mich über den Rand des Glases in ihrer Hand. „Ich will es für unser Baby.“
„Das ist nicht fair.“ Stöhnte ich.
„Das habe ich auch nicht behauptet!“
Baby klatsche in die Hände.

2. Abfahrt

„He, du willst zu Maha Shivaratri!“
Der Taxifahrer lachte, schüttelte seine Rastalocken und hielt mir die Tür auf. Ich hatte mir an der Rezeption extra einen Hindu als Fahrer bestellt. Der Portier hatte mich mit einem Blick angeschaut, der mir klarmachte, dass meine Frage so töricht sei, wie in Berlin extra um einen schlecht gelaunten Taxifahrer zu bitten. Er wünschte mir Glück, als er mich Richtung des vorgefahrenen Taxis verabschiedete. Er persönlich hatte mir zu einer Limousine geraten. Ich würde schon sehen, was ich davon hatte.
Ich warf meinen Rucksack mit der leeren Volvic Flasche auf die Rückbank und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Kaum das die Tür zu war, schoss der Wagen in die Nacht.
Am Rückspiegel des Toyotas hing ein Shiva Bild mit 3D Effekt und eine Blumengirlante. Auf dem Knauf des Schalthebels saß Buddha. Der Anblick der beiden beruhigte mich. Ich war hundemüde. Ich war aufgeregt. Ich hatte Angst. Die Nacht war dunkel. Die Insel fremd. Die Sterne unbekannt. Der Mann neben mir ein Wesen von einem anderen Planeten. Ich war auf dem Weg, heiliges Wasser zu holen. Nicht schlecht für den ersten Urlaubstag.
„Ich war gestern beim Maha Shivaratree, mit der ganzen Familie. Es ist das schönste Fest überhaupt.“ Der Fahrer tätschelte mir den Oberschenkel. „Willst du direkt zum Fest oder willst du den Weg gehen?“
„Wie macht man es denn?“ fragte ich.
Der Fahrer beugte sich zu mir, kramte eine CD aus dem Handschuhfach und schob sie in den Player. Die mächtigen Beats einer Raga wummerten durch den Wagen. Eine Sitar spielte mit den Rhythmen. Der Straße wand sich in kühnen Kurven durch eine hüglige, felsige Landschaft bergan. Ab und zu kam uns ein Fahrzeug direkt entgegen, um im letzten Moment gerade noch an der Seite vorbeizurutschen.
Das Hupen gehörte irgendwie zur Musik.
„Wir Hindus pilgern. Es gehört zum Ritual.“
„Dann gehe ich auch.“ Sagte ich. „Wie lang ist der Weg?“
Er musterte mich, lachte. „Du willst nicht nur hin, um es dir anzusehen?“
„Nein“, sage ich. „Ich will Wasser für meine Familie holen!“
Sein Lachen wurde wärmer. „Gut. Sehr gut. Hast du ein Gefäß?“
„Eine Flasche.“ Ich zeigte nach hinten auf den Rücksitz.
Er nickte. „Zwei Stunden hin. Zwei Stunden zurück. Ich werde an der Stelle warten, an der du losgehst. Magst du die Musik?“
„Ich liebe Ragas.“
„Ein Gebet für Shiva.“ Sagte mein Fahrer lachend. „Was weißt du vom Maha Shivaratri?“
„Es heißt „Die große Nacht Shivas.“ Sagte ich.
Mein Fahrer nickte. „Shiva hat Brahma und Vishnu besiegt, hat ihre Seelen geläutert. Aber weißt du, warum das Wasser im Grand Bassin das Wasser des Ganges ist?“
Die Vision eines Priesters, hatte der Boy gesagt. Aber ich war mir nicht sicher, ob es die ganze Geschichte war.
„Vor tausenden Jahren ist Shiva um die Welt gereist. Hat alle schönen Plätze auf der Welt besucht. Er ist natürlich nach Mauritus gekommen. Gibt es einen schöneren Platz auf der Erde?“
Ich verneinte voller Inbrunst.
„Genau. Deswegen musste er auch tanzen, als er hier war. Um die Menschen in Indien während seiner Reise vor Überschwemmungen zu schützen, hatte er sich den Ganges in die Tasche gesteckt. Um auf ihn aufzupassen. Als er aber tanzte, weil er so glücklich war, weil unsere Insel so schön ist, da schwabbte ihm ein Schluck Ganges aus der Tasche in einen leeren Vulkan. Das ist Grand Bassin. Der Ganges war sauer, wollte sein Wasser zurück. Aber Shiva sagte ihm, dass eines Tages viele Hindus hier leben werden, die sich dann in seinem Wasser waschen können. Da war auch der Fluss wieder glücklich.“
Schöne Geschichte. Ich schaute hinaus in die Nacht. Die Schatten üppiger Bäume flogen vorbei, ab und zu ein hellblaues oder rosa Haus, eine Lampe, kleine Altare im Licht flackernder Kerzen. Wir fuhren durch den Black River Georges Nationalpark, überholten einen Simca, der ohne Licht fuhr und einen mit lachenden und winkenden Menschen voll gestopften Pick-up. Mein Fahrer singsangte zum Klang der Tablas. Ich fühlte mich mit einem Mal sehr sicher.

„Weißt du, was du tun musst?“
Wir hatten auf einer leicht ansteigenden Wiese geparkt. Der Fahrer schaltete das Licht ab. Für einen Moment war es einfach nur Schwarz. Dann blendete das Bild langsam wieder auf. Nebel hing über der Wiese, den Autos und den Bäumen. Eine endlose Kette von im Nebel verschwommenen bunten, tanzenden Lichtern zog vor mir Hügel auf. Ich öffnete die Tür des Wagens.
„Weiß ich nicht.“
„Pass auf.“ Er legt mir die Hand auf die Schultern. „Du gehst einfach mit. Der Weg führt dich. Wenn du am Grand Bassin bist, gehst du zum Wasser, ziehst die Schuhe aus. Du gehst mit den Füßen ins Wasser. Nur mit den Füßen! Das Wasser des Ganges ist stark hier! Und das Bassin heißt Grand, ist aber eher klein. Dann verneigst du dich vor Shiva. Erweißt ihm Ehre. Du nimmst Wasser. Das erste Wasser opferst du dem Gott. Du dankst Shiva und sagst ihm, was du zu sagen hast. Bittest ihn, was du bitten willst. Dann nimmst du das Wasser, verbeugst dich und gehst. Das darfst du nicht vergessen!“ Seine Hand packte fester. „Den ersten Schluck musst du einer Kuh geben. Eine Kuh. Sonst wirkt das Wasser nicht.“
„Einer Kuh?“ Fragte ich.
„Ja. Eine Kuh.“ Er ließ mich los. „Ich bin hier, wenn du zurückkommst.“
Ich bedankte mich und stieg aus.
Die Nacht war schwer und warm. Die winzigen Tröpfchen des Nebels verfingen sich in meinen Haaren. Es duftete. Das Gras war weich. Ich machte ein paar Schritte Richtung der wandernden Lichterkette. Blieb stehen.
Mein Taxifahrer hatte die Seitenscheiben heruntergelassen und die Lehne seines Sitzes zurückgeklappt. Eine Zigarette glomm in seinem Gesicht. Ich glaubte ihren Geruch zu erkennen.
Ich verbeugte mich.
Seine Zähne leuchteten weiß hinter dem Joint.

3. Der Wolkenweg

Ich lief den tanzenden Lichtern nach, wurde bald ein Teil des Zuges, der mal überholte, mal überholt wurde. Alle waren für die große Party festlich gekleidet. Die Frauen trugen weiße Saris mit Gelben und Orangen Schals. Alte und junge Frauen waren mit Blumen geschmückt. Familien zogen vorbei oder machten am Wegesrand Pause. Mütter mit Babys, Teenies, Großeltern und Picknick-Körbe. Junge Männer trugen zu Zweit oder zu Viert leuchtenden und blinkenden Musikboxen, die mit OMs und Shiva Bildern geschmückt waren. Der Hindu-Pop dröhnte plötzlich aus dem Nebel auf und verschwand in der nächsten Wolke. Weiß mit Gold, weiß mit Orange, mit Türkis, mit Blau. Es war nicht bunt, aber alle Farben waren da. Mädchen kicherten. Wo Shiva verehrt wird, wird auch der Shiva Lingus angebetet, der Samenschleuderer, der heilige Phallus. Das Gekicher klang wie plötzlich anschwellendes Vogelgezwitscher. Keine Vögel sonst. Alle Aufmerksamkeit für den Zug glücklicher Menschen.
Ich war für die Party eindeutig zu nachlässig gekleidet.

Ich wusste nicht wie lange ich unterwegs war. Ich hatte die Zeit vergessen, meine Füße hatten sich dem Tempo des Zuges angepasst. Ab und an legte ich den Kopf in den Nacken. Ich hatte meinen Pferdeschwanz geöffnet, meine Haare hingen vom Nebeltau nass an mir herunter. Mein schwarzes Hemd war fleckig, ich trug einen schwarzen Eastpak Rucksack. Neben der leeren Wasserflasche waren darin nur noch meine Geldbörse mit meiner schwarzen AMEX, Ausweis und Führerschein, ein kleinerer Betrag in bar und zwei Erdnussriegel. Wenn hier jemand aussah wie Dritte Welt, dann war ich das. Ich hatte die wichtigste Kreditkarte der westlichen Welt.
Die Prozession führte durch Wolken, die schwer, warm und nass auf dem Bergkamm lagen, der hoch zum Grand Bassin führte. Sie gaben der ganzen Prozession etwas Traumtänzerisches, Weiches. Sie legten eine Tröpfchenaura um jeden Pilger. Jeder ging in ihr allein. Das ist der einzig wahre Weg, wie man sich einem Ritual nähert.
Es dauerte lange, bevor ich einen anderen Weißen sah. Es fiel mir überhaupt erst auf, als ich an einer blonden Frau vorbeiging. Sie hatte die herben Gesichtszüge einer Engländerin. Auch sie trug weiß. Ihre Brüste waren bemerkenswert. Ich überlegte kurz, ob der Gedanke auf diesem Weg zulässig war. Fand mich dann aber in Übereinstimmung mit dem Gott. Wir lächelten uns zu.
Die Wolken wurden wieder dichter.

Ich hatte nicht das Gefühl aufzufallen. Aber ich viel auf. Ich war einen Kopf größer als die meisten auf diesen Weg. Ich sah 100% wie ein Tourist aus. Ich trug dunkle Klamotten zu weißer Haut. Bei allen anderen war es umgekehrt. Ich fühlte mich willkommen. Aber ich bekam keine extra Aufmerksamkeit. Die lag bei allen auf dem Weg. Dafür bekam ich jede Menge stille Lächeln, freundliche Blicke im vorübergehen. Und langsam, ganz langsam begann mich etwas von der Würde zu durchdringen, in der sich die Anwesenheit des Geistes manifestiert. Ich spürte ihn. Mein Rücken wurde gerade, mein Atem gleichmäßiger. Ich machte ruhigere Schritte, der Boden unter den Füßen war fest und federnd.
Ich ging meinen Weg und ich spürte Dankbarkeit, dass ich losgegangen war

Der Weg öffnete sich nach einer scharfen Biegung und ich stand vor einem Rummelplatz. Tausende bunte Lichter leuchteten, Neons zuckten; dazu ein Mördersound. Oben drüber die Musikboxen, der helle Hindupop, eigenartig Synchron. Darunter tiefe Trommeln, deren dumpfes Dröhnen dem ganzen Platz einen einzigen Rhythmus gab. Nüsse und Früchte wurden angeboten, kandierte Naschereien an Spießchen, Götterbilder und Räucherstäbchen. Altare säumten den Weg. In Zelten saßen Familien oder Tempelgemeinschaften, rasteten oder aßen. Viele beteten. Kinder rannten herum, schliefen. Glocken klangen, Mantras wurden gesungen. Der Platz war bunt wie ein Jahrmarkt, aber es fehlte die Aufgeregtheit, das Gekreische, das Gegröle der Unsicherheit. Trotz der verschiedenen Musiken, Glocken und der Trommeln war es still. Die Menschen waren still.
Ich sah das alles im vorbeigehen. Ich folgte dem Strom. Er war zwar schmaler geworden, hatte aber noch immer eine kräftige Strömung.
Der Weg machte einen kleinen Bogen um einen Felsen. Die Silhouette des Felsens, seine schroffen Zacken, die sich nach rechts in anderen Felsen fortsetzen, den offenen Kreis den sie bildeten, ließen den eingesunkenen Vulkankegel erkennen. Hinter der Biegung endete der Weg anlangen, flachen Treppen, die hinunter zum Wasser führten.
Es waren viele Stufen. Im Grund des Kraters war es kühler. Ein dunkles Brummen erfüllte die Luft. Dann stand ich am Grand Bassin. Sein Wasser war schwarz und unbewegt. Kerzen trieben darauf. Am anderen Ufer ragten dunkle Felswände schroff auf. Über dem Wasser tanzte ein riesiger, bunter Neon-Shiva. Er war an Stahlseile gehängt, die in den Felswänden verankert waren.
Ich wurde weitergeschoben. Das Ufer war von tausenden Altären und Kerzen übersät. Überall lagen Früchte, der Rauch von Opfergaben machte die Luft schwer.
Ich fand meinen Platz am Ufer.
Ich atmete tief durch. Ich hörte mein Herz schlagen.
Ich hatte die Schuhe ausgezogen und die Socken ordentlich darübergelegt. Der Rucksack lag fast akkurat neben den Schuhen. Ich hielt die Flasche in der Hand. Das alles hatte ich getan, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden. Ich war auf das konzentriert, was ich Shiva bitten wollte. Ich hatte auf dem Weg darüber nachgedacht. Mein Körper hatte beim Laufen daran gedacht.
Ich war vierzig. Ich fühlte mich gut. Seit das Baby geboren war, waren wir eine richtige Familie. Ich liebe Familie. Ich war meiner Frau dankbar, dass sie mich hier heraufgeschickt hatte. Ich hatte Freunde, das Geschäft lief. Ich hatte die meisten Dinge im Griff. Aber immer noch nagte es gewaltig in mir. Oft genug. Immer noch trieb es mich. Und noch immer wusste ich nicht wohin.
Wohin?
Ich wollte Shiva bitten, mir ein Zeichen zu geben.
Ich faltete die Hände um meine Flasche und führte sie zur Brust. Ich war mir nicht sicher, ob es dem Wasser des Ganges oder Shiva galt. Im Zweifel beiden. Ich erinnerte mich an die Worte des Taxi-Fahrers und machte einfach nach, was die Menschen neben mir vormachten. Ich trat in das Wasser. Es war kalt. Es ging mir bis zu den Waden. Der Grund war felsig. Das Wasser glasklar. Ich ging in paar Schritte weiter hinein. Es wurde nicht tiefer. Ich verneigte mich noch einmal, dankte Shiva, meiner Frau, dem Baby, dem Hotelboy, American Express und dem Taxifahrer, dass ich gerade jetzt hier sein durfte. Ich bückte mich und ließ Wasser in die Flasche fließen. Ich richtete mich wieder auf.
Langsam floss das Wasser aus der Flasche in den See zurück.
Der Zeitpunkt war gekommen, meine Bitte vorzutragen.
Jetzt.
Es kam nichts. Alles war wunderbar wie es war. Und auch wenn es sich verändern würde, es gab keinen Wunsch es zu ändern oder es zu lassen. Die Japaner haben ein Wort für diesen Zustand: Nin-ten-do.
In der Hand des Himmels.
Das Wort Glück passt auch sehr gut.
Ich schöpfte die Flasche voll. Bedankte mich und ging ans Ufer zurück.

Archive

Wir benutzen Cookies um die Nutzerfreundlichkeit der Webseite zu verbessen. Durch Deinen Besuch stimmst Du dem zu.