In der U-Bahn roch es wie in einer heißen Bockwurst.
Ich ließ mich auf den letzten freien Platz fallen und streckte die Beine aus. Fünfundzwanzig Grad Celsius hatten die Morgennachrichten gemeldet. Zweiunddreißig sollten es werden. Die Leute begannen aus dem Leim zu gehen. Hier am Kopfende des Waggons war man wenigstens auf einer Seite gegen Körperkontakte gedeckt.
Eine türkische Mama hatte versucht, mich beim Einsteigen mit dem Ellenbogen zu blocken. Jetzt stand sie eingekeilt zwischen einer Gruppe japanischer Studenten und war gerade dabei, sich bei ihrem Mohammed über mich zu beschweren.
Mir reichte mein Drama.
Seit gestern nachmittag wohnte ich in Georgs Wohnung in der Goethestrasse, Charlottenburg. Ich war bei Karen ausgezogen.
Der Anlaß klingt läppisch; es war ein Nutellaglas.
Als ich gestern morgen zum Kühlschrank schlurfte, war das Nutellaglas leer. Auf dem Kühlschrank lag ein dick mit Nutella bestrichenes Brötchen. Darauf war eine Zigarette ausgedrückt. Sie hatte nur einmal davon abgebissen. Das war doppelt fies. Ich war seit einigen Wochen Nichtraucher. Es war mir nicht leichtgefallen. Karen wußte das.
In der Ecke standen leere Coke- und Sektflaschen, überall schmutziges Geschirr und Kleidungsstücke. Das Grün, in dem Karen die Küche gestrichen hatte, war schon bei Tag nicht zu ertragen – morgens war es eine Katastrophe.
Ich stand an den Kühlschrank gelehnt, schaute zum Fenster und mit einem Mal hielt ich es nicht mehr aus: Das Nutellabrötchen hinter mir, meine Füße unter mir, die Decke über mir und das Fenster voller Himmel – auf der Kiste im Flur lag Georgs Schlüssel.
Es gab keinen Grund mehr zu bleiben.
Ich holte mir eine blaue Mülltüte aus dem Schrank unter der Spüle und ging in mein Zimmer. Viel hatte ich nicht mehr, und noch weniger, was zu behalten sich lohnte. Die Boxershorts mit den Fröschen waren wichtig, mein grünkariertes Jackett. Es war maßgeschneidert und sauteuer gewesen. Ich hatte es mir machen lassen, als ich mal beinahe in einer Talkshow aufgetreten wäre. Der Sender schickte dann jemand anderen.
Ich überlegte, ob ich Karen einige Zeilen des Abschieds auf den Spiegel schreiben sollte.
DANKE FÜR DIE ZEIT.
OH, LIEBLING, ICH MUSS DICH VERLASSEN schien mir am passendsten. Beim Ansatz zum O brach der Lippenstift ab. Ein anderer war nicht zu finden. Es blieb ein verschmierter roter Strich. Als wenn es zu einem Herz nicht gereicht hätte.
Den blauen Müllsack in der Linken, mein Hi-Fi mit Henkel in der Rechten, stolperte ich aus der Wohnung.

Ohne Geld für ein Taxi blieb mir nur die U-Bahn.
Den Plastiksack zwischen den Beinen, den Ghettoblaster auf dem Schoß, so saß ich neben anderen mit Plastiktüten und Ghettoblastem bepackten Typen.
Die Größe lag im Augenblick.

Ohne Warnung war es Abend geworden. Im SFB spreizte sich Monika Dimbel, gab sich als Erfinderin eines jeden Musikstils und erzählte, dass Bruce Springsteen demnächst im Ost auftreten wird. Soweit kommt`s noch!
Das Geschnatter ging mir auf die Nerven. Ich war zu faul, die Suchlauftaste zu drücken, um die Station zu wechseln.
Ich lag auf Georgs Designerbett, starrte auf die weißen Wände und dachte daran, mir Visitenkarten machen zu lassen. Visitenkarten sind wichtig, damit man weiß, wer man ist. Als ich beim Sender war, als einer der Sidekicks bei BRIGHT LIGHTS, hatte ich welche. Das kam gut an – bei Frauen und bei Trunkenheit. Ich konnte mir welche mit Georgs Adresse machen lassen. Für ein halbes Jahr wäre das okay.
Es gab niemanden, der sich für meine Visitenkarten interessierte. Alle waren fort. Sommer ist wie Pest. Jeder versucht sich in Sicherheit zu bringen.
Ich wollte an was anderes denken; an dicke Titten, an eine Szene aus Monty Pythons »Sinn des Lebens«, aber da war es schon zu spät: Das heulende Elend hatte mich an der Gurgel.
Das heulende Elend ist niederträchtig. Gerade denkt man, man ist ihm entkommen, da steht es vor einem. An Sonnentagen ist es besonders gemein. Dann kann man nicht hoffen, dass es verschwindet, wenn die Sonne kommt. Dann sind alle Poren offen. Es dringt ganz tief ein, stößt einem die Faust in den Magen, drückt einem die Luft ab. Und dann liegt man da und es gibt niemanden, der weiß, dass man auf dieser Welt ist.
Im Kühlschrank stand eine Flasche Chablis. Kalter Weißwein ist ein gutes Mittel gegen das heulende Elend. Außer ihm helfen noch Calvados, Cognac, Whisky, Pernod, Wodka und was gerade da ist. Die Flasche leerte sich schnell. Die Namen im Radio interessierten nicht mehr. Ich war ans
Fenster gekrochen, um die Stimmen zu hören. Die Stimmen der Dämmerung; Novalis und seine romantische Truppe – sie sangen tröstende Psalmen.
Die Flasche war leer, das heulende Elend hatte sich verzogen. Ich starrte in den Himmel und hatte das Gefühl, eine Ewigkeit so liegen zu können. Der Himmel war noch immer blau und wurde weit und weiter.

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