Die S-Bahn Richtung Mariendorf war leer. Zum Wannsee und in den Grunewald fährt man in die entgegengesetzte Richtung. Hier fuhren nur Leute, die mußten. Männer mit Kalkgesichtern und Frauen mit schwieligen Händen.
Ich stieg in Mariendorf aus.
Das Fritz-Reuter-Werk sah von weitem aus wie ein gestrandetes Schiff. »…und dann gehen Sie einfach auf den grauen, alten Dampfer zu«, hatte es die Frau am Telefon beschrieben. Unter dem Dach sollten die Marktforscher sitzen: Hoch genug war es.
Vor einigen Wochen sah ich wie gewöhnlich die Stellenangebote im »Tip« und in der »Zweiten Hand« durch. Mir fiel eine Anzeige auf, in der kommunikative Menschen für eine leichte Tätigkeit gesucht wurden. Ich rief an, um mich zu erkundigen.
»Interviews, Telefonbefragungen«, erklärte eine sanfte Frauenstimme.
Ich hatte mal Wein auf Provisionsbasis verkauft – am Telefon. Der Chef des Ladens war ein elender Wichser. Die paar guten Adressen, mit denen wirklich Kohle zu machen war, schanzte er denen zu, die ihm auf dem Klo einen bliesen. Der Rest konnte sich die Zunge zu Leder reden.
Ständig besoffen war er, und dann bekam er Probleme mit der Optik und fummelte jeden an, der ihm vor die Flinte kam.
Nach vierzehn Tagen gab ich auf.
Bei TEMPO, Institut für Markt- und Meinungsforschung, wurde ein fester Stundenlohn gezahlt und die Stimme klang korrekt. Leider waren gerade alle Stellen neu besetzt.
Ich sagte der Stimme, dass ich den Job will. Dann sagte ich es noch mal. Dann sagte ich, dass ich gesagt hätte, dass ich den Job will.
Die Stimme versprach anzurufen, sobald wieder was frei sei. Das war zwei Wochen her. Vorgestern rief sie an.

Ein einsamer Gabelstaplerfahrer sicherte nach links und rechts und setzte dann über die Straße. Die Sonne voll im Gesicht, stapfte ich auf das Fritz-Reuter-Werk zu. Zwölf Mark die Stunde sollte es geben. Das war nicht viel für einen Mann meiner Qualifikation. Ich hatte zwei Semester Publizistik studiert und wäre beinahe ein erfolgreicher Rundfunkmensch geworden. Das war schon einige Zeit her und niemand ist interessiert an dem, was jemand irgendwann mal gemacht hat. Es sei denn, er hat seine Steuern nicht bezahlt.
Der Pförtner zerdrückte eine filterlose Zigarette und schob mir wortlos eine Liste zu. Anmeldung TEMPO stand darauf.
Ich machte drei Kreuze und schob sie zurück.
Im Aufgang roch es nach Maschinenöl. Vertreter der proletarischen Kleinkunst hatten behaarte Fotzen in die Wände geritzt und auf grindigen Ölsockeln ihre Fingerabdrücke hinterlassen.
In reiner Herrlichkeit strahlte die Welt der Statistik unter dem Dach: Weiß gestrichene Wände, grau abgesetzte Flächen und eine Tür, die sich ohne Laut öffnen und schließen ließ. Ich trat ein und schaute mich nach jemandem um, dem ich sagen konnte, dass ich da war.
Ein Rockabilly mit blauschwarzem Haar saß in einer Glasvitrine und spielte an einem Computer. Ich suchte nach einer Lücke im Glas.
»Ist dir zu helfen?« Die Stimme kannte ich vom Telefon.
Die Frau war um die dreißig. Sie trug einen Fransenhaarschnitt, eine weiße Bluse und Jeans. Sie war der sportlich-lässige Typ, bei dem man sich schnell um ein paar Jahre vertun kann.
Während ich zwischen Sie und Du schwankte, bemerkte ich, dass ihre Bluse nicht eigentlich weiß, sondern eher transparent war und für ihre zierliche Figur bedeutende Einsichten offenbarte.
»Hermann Eisenkolb«, stellte ich mich vor.

»Wir kennen uns vom Telefon«, sagte sie und gab mir lachend die Hand. Sie hieß Birke und hatte sich meinen Namen gemerkt.
»Nichts Besonderes«, winkte ich ab. »Die meisten Leute merken sich dieses teutonische Ungetüm von einem Namen, weil sie ihn zuerst für einen Witz halten. Ich habe fünfundzwanzig Jahre gebraucht, um mich daran zu gewöhnen.«
Birke fragte, ob ich ihren besser fände.
»Na Gott«, sagte ich. »Birke… russische Wälder, Körbe voller Früchte, herrliche Weite… wunderbare Aussichten …« Wenn die übrigen Leute hier auch so sind, dachte ich, wird es vielleicht ganz nett.
Birke führte mich durch einen großen, hellen Raum. In Dreiergruppen saßen Männer und Frauen vor Computern.
Jeder trug einen Knopf im Ohr, alle hatten Mikrophone vor den Lippen. Alle wirkten sehr ernsthaft, so, als wären auch Operationen möglich. Das lag am dominierenden Weiß. In einer Nische stand ein großer, runder Tisch mit Tassen und einer Thermoskanne.
Birke blieb stehen.
Die um den Tisch saßen alle wie Korsetträger.
Das waren die Neuen.
Es gab keinen Grund, sich die Namen zu merken, die reihum genannt wurden. Belanglos interessierte Gesichter, Burschen mit dünnen Bärtchen über der Oberlippe und Mädchen mit verhuschten Kajalstrichen um die Augen. Die kannte ich aus meiner Unizeit. Saßen sich die Ärsche in jedem Seminar platt und stopften Wissen wie Hamburger in sich hinein. Mit denen war, außer Staat, nichts zu machen.
Birke fragte Namen ab und machte Häkchen auf einer Liste.
Ein Witzbold nannte auch seine Schuhgröße.
Mit einem Kaffee aus der Thermoskanne saß ich zurückgelehnt und alles war harmlos und nett, als weiter rechts ein Mädchen seinen Namen nannte. Angelique.
Mit einem Schlag war nichts mehr harmlos. Schweiß stand mir in den Achselhöhlen, die Kaffeetasse in meiner Hand begann zu zittern. Es machte »Klick«, und dann lief es ab wie Kino:
Ein Verkehrsschild mit einer Entfernungsangabe in Meilen steht wie vergessen; von Sehnsucht gejagte Wolken ziehen darüber hinweg. Der Held steht mit vorgebeugten Schultern eingekeilt zwischen den grauen Fassaden der Häuser. Der Held ist kein Sieger. Es gibt nichts mehr zu gewinnen. Er schlägt den Kragen seiner Jacke hoch und geht, geht die drei Stufen hinab zu einem Kramladen.
Im Geschäft riecht es nach Seife und billigem Parfüm, vielleicht nach Kaffee. Der Held klopft mit einem Geldstück auf den Ladentisch. Da erscheint sie. Sie ist keine Schönheit, aber sie ist wunderschön. Sie weiß genausoviel vom Leben wie er. Und in dem Moment, in dem sie sich anschauen, bekommen ihre Augen Farbe, so wie in »Rumble Fish« die Fische. Und der Held weiß sofort, dass er der Frau nichts erzählen muß, und die Frau weiß, dass er sie nichts fragen wird, was sie ihm nicht selbst sagen will. Sie fassen sich nicht an, sie nehmen sich in Besitz.
Bevor das passiert, sagt einer von beiden okay, wie das nur jemand sagen kann, der weiß, dass ein gutes Okay das Schwierigste ist, was man heutzutage sagen kann. Und es ist egal, ob die Frau es sagt oder der Mann, denn wenn es Liebe ist, kann einer für zwei sprechen und es ist Liebe.
Sie saß zwei Stühle weiter, die Arme gelangweilt über der Brust verschränkt. An ihrem Handgelenk hing ein bißchen Gold, der Lack an ihren Nägeln war frisch. Sie war keine Erscheinung aus Licht und Traum. Gut sah sie aus. Vielleicht ein bißchen mehr als gut. Ihr Haar war rot wie ein Ferrari, ihre Haut reinweiß. Aber das war nicht Grund genug, mich derart aus der Fassung zu bringen.
Eisenkolb, versuchte ich mich zu ermahnen, Eisenkolb, dir drückt der Pimmel ins Hirn. Kritisch betrachtet schien es, als wäre ihr Mund zu dick, ihre Augen zu groß, ihre Nase zu breit. Trotzdem oder gerade deshalb – ich stellte mir vor, mit ihr bei einem Italiener zu sitzen, wo es Muscheln gibt, Garnelen und andere Schalentiere, die man mit den Fingern essen kann, und ihre Lippen glänzen feucht, und Saft tropft ihr vom runden Kinn, und ich nehme ihre Finger in den Mund…
Was weiß ich, weshalb ich an Essen dachte. Mein Magen knurrte.
Birke sagte, dass es keine Probleme gibt. Es kommt auf eine positive Grundeinstellung und ein Stück Einfühlungsvermögen an. Der Mensch braucht ein Erfolgserlebnis.
Das war das Mutmachprogramm. Sie versuchte die ganze Sache New Age mäßig aufzuziehen. Sie hatte ihren Capra gelesen. Ich mußte grinsen.
Birke fragte, was es zu lachen gäbe.
Ich sagte, dass ich eine Weile Wein übers Telefon verkauft hätte.
»Ach so«, sagte Birke.
»Ja«, sagte ich.

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